Himmel über Tasmanien
beiseite. »Sie können mich jetzt zurück ins Hotel fahren«, sagte sie. »Ich habe genug gesehen.«
Die vergangenen Monate, in denen er Lulu Pearson durch London und wieder zurück nach Sussex gefolgt war, waren höchst interessant gewesen. Die Zeitungsberichte über ihre erfolgreiche Ausstellung und die gerichtliche Untersuchung ihres Freundes Maurice waren sorgfältig ausgeschnitten und ans Büro geschickt worden, zusammen mit Einzelheiten über ihre Besuche beim Anwalt ihrer Tante und ihre gebuchte Passage auf der Ormonde . Jetzt musste er nur noch seinen Abschlussbericht schreiben, und seine Aufgabe war erledigt.
Er stand noch am Kai, nachdem das Taxi Clarice schon längst weggebracht hatte, und sah zu, wie die Ormonde ablegte. Er war besorgt. Die Anweisung, Lulu zu beobachten und jährlich einen Bericht an eine Londoner Anwaltskanzlei zu schicken, war nie ausführlich erklärt worden, und bis jetzt hatte es ihn nicht gestört. Er war dankbar gewesen für die großzügigen Honorare und hatte keinen Grund gesehen, seine Anweisungen zu hinterfragen. Er hatte sie genau ausgeführt. Jetzt kamen ihm Zweifel.
Nach dem ersten Brief aus Tasmanien war alles sehr schnell gegangen, und seine jahrelange Erfahrung als Privatdetektiv hatte ihn genug über die menschliche Natur gelehrt, um zuwissen, dass etwas nicht stimmte. Jemand manipulierte Lulu Pearson – und es beunruhigte ihn, dass er keine Ahnung hatte, wer das war oder warum man es tat.
Lulu und Dolly hatten ihre Kabine begutachtet, waren in Begeisterungsrufe ausgebrochen, als sie die hübschen Bettbezüge sahen, die bequemen Möbel, die übersichtlichen Stauräume und die riesigen Blumensträuße, die ihre Freunde ihnen geschickt hatten. Jetzt hatten sie sich gegen den messerscharfen Wind, der über die Themse fegte, in ihre Mäntel gewickelt, während die Sonne versank, und tranken den Champagner, den Lulu bei ihrem Steward bestellt hatte.
Das Deck füllte sich, je näher der Zeitpunkt der Abreise rückte, und die Aufregung war mit Händen greifbar. Lulu lehnte sich an die Reling, die Matrosen weit unten zogen die Gangways hoch und holten die Taue ein. Dolly und sie hatten ihre Schuhe ausziehen müssen, um die Stufen zu bewältigen, was ziemlich lustig gewesen war, denn die meisten anderen Frauen hatten denselben Fehler begangen, Pumps zu tragen. Als sie an Deck kamen, waren ihre Strümpfe zerrissen, aber sie hatten bereits Freundschaften geschlossen.
Lulu schaute über die Hafenanlagen und den Fluss hinab bis ans offene Meer am Horizont. »Kneif mich, Dolly, damit ich weiß, dass das alles wahr ist.«
Lachend zwickte Dolly ihr die Wange.
Das Tuten aus den beiden Schornsteinen ließ sie zusammenfahren, und als die SS Ormonde sich langsam vom Anleger entfernte, hob Lulu ihr Glas und prostete Clarice still zu mit dem Versprechen, zurückzukehren. Dann wandte sie sich mit breitem, aufgeregtem Lächeln Dolly zu. »Auf unsere Freundschaft und eine gute Überfahrt.«
»Und auf Australien«, rief Dolly. Sie stießen an und leerten ihre Gläser, während der Hafen von London immer weiter hinter ihnen zurückblieb.
5
W ährend der August in den September überging, stellte Clarice fest, dass die Nächte mit einer Dunkelheit erfüllt waren, die sie zu ersticken drohte. Das leise Stöhnen und Ächzen des alten Familienanwesens war stets ein Trost gewesen, aber das vertraute Klagen vermittelte keine Gesellschaft mehr, es war nur mehr eine Mahnung, dass sie nun im Haus allein war. Allein, bis auf Vera Cornish, die in ihrem Mansardenzimmer schlummerte.
Sie lag mit weit aufgerissenen Augen da, fand keinen Schlaf und lauschte dem Klappern der Wasserrohre, der durch den Kamin pfeifenden Nachtluft und dem Knarren des Holzes. Es war, als würde das Haus atmen, als könne es auch nicht schlafen. Sie hatte nie an Gespenster geglaubt, hatte also keine Angst vor der Dunkelheit, und bis jetzt war sie sich selbst immer genug gewesen. Doch während sie auf den sanften Schimmer der Morgendämmerung wartete, die alle Schatten vertreiben sollte, wurde sie von Erinnerungen heimgesucht. Seit Loreleis Abreise waren sie jede Nacht gekommen. Beunruhigend und hartnäckig forderten sie, noch einmal durchlebt zu werden, und brachten vergangenes Leid und quälende Schande mit sich.
Sie schloss die Augen und gab ihnen schließlich nach, denn Lorelei würde bald in Australien ankommen, und dort hatte alles angefangen.
Sydney, Australien, Dezember 1886
In den letzten elf Monaten hatte
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