Himmel über Tasmanien
Wohnzimmer wartet ein besonderes Geschenk auf dich, aber du musst geduldig sein und darfst es erst nach dem Mittagessen öffnen.«
Clarice überkam ein wonniges Gefühl angesichts seiner Nähe, und sein Lächeln wärmte sie, doch diese angenehmen Empfindungen ließen sie ihre unglückliche Lage nicht vergessen. Algernon hatte die Fröhlichkeit zu Weihnachten noch nie gemocht und weigerte sich, das Geben und Nehmen von Geschenken zu billigen. Sie hatte die Geschenke für Eunice und ihre Familie bis zu diesem Morgen verstecken müssen und wusste, er würde nach den Quittungen fragen, wenn er sich an die monatliche Abrechnung setzte.
Lionel blieb stehen und schaute auf sie herab, hob mit dem Finger ihr Kinn, bis sie seinen Blick erwiderte. »Warum machst du so ein trauriges Gesicht, Clarice?«
Seine Augen verzauberten sie, und sie trat hastig einenSchritt zurück. »Ich bin überhaupt nicht traurig«, protestierte sie.
Seine Zweifel waren ihm deutlich anzusehen, doch zum Glück drang er nicht weiter in sie, sondern deutete stattdessen auf den Kronleuchter über ihnen. »Weißt du, was das ist?«
Sie betrachtete die Pflanze, die daran hing. Sie hatte lange, feste grüne Blätter und strahlenkranzförmige Blüten in Gelb und Orange. »Ich habe sie an Bäumen wachsen sehen«, erwiderte sie, »daher ist es wahrscheinlich eine Schmarotzerpflanze.« Sie lächelte über seine Verwunderung. »Algernon hat mir ein Buch über australische Botanik geliehen, um meine Bildung zu verbessern.«
»Wie großartig von ihm«, bemerkte er trocken. Er trat einen Schritt näher an sie heran. »Es handelt sich um Misteln, und wenn man darunter hinweggehen will, kostet es einen Kuss.«
»Sei nicht albern«, entgegnete sie und wich nervös zurück.
»Ich bin ganz und gar nicht albern«, erwiderte er und rückte erneut vor, »und man muss die Tradition aufrechterhalten, selbst in den Kolonien.« Die Intensität in seinen Augen wurde plötzlich von einem jungenhaften Grinsen besiegt. »Es ist nur ein bisschen Spaß, Clarice, und was kann ein einziger kleiner Kuss schon schaden?«
Clarice hatte den Verdacht, dass er sich nicht so benehmen würde, wenn Algernon oder Eunice in Sichtweite wären. Sie warf rasch einen Blick durch die Eingangshalle. Sie waren allein, die Geräusche der Party schwebten durch die Gartentüren zu ihnen herein. Sie schaute ihn wieder an, sah sein spöttisches Lächeln und konnte nicht widerstehen. »Ein Kuss, Lionel, und auf die Wange. Nicht schummeln.«
»Nicht schummeln«, versprach er, beugte sich zu ihr vor, und sein Schnurrbart zuckte unter seinem schelmischen Grinsen.
Clarice stellte sich auf die Fußballen und schickte sich ziemlich unsicher an, einen flüchtigen Kuss auf das duftende, sonnengebräunte Fleisch zu setzen. Sie musste ihr Gleichgewicht verloren haben, oder er musste sich bewegt haben, denn statt seiner Wange spürte sie seinen Mund unter ihren Lippen – weich und warm, zart wie ein Schmetterling, trotzdem versengte er sie und fachte Feuer an, die sie längst gelöscht zu haben glaubte.
Fast ohnmächtig vor Verlangen und nach Luft schnappend musste sie sich zwingen, ihn von sich zu stoßen. »Lionel«, keuchte sie, »wie kannst du es wagen, dein Versprechen zu brechen?«
Er grinste ohne das leiseste Bedauern. »Ich hatte die Finger gekreuzt«, sagte er, »daher zählte das Versprechen nicht.«
Sie entschied, dass Angriff die beste Verteidigung war, und setzte eine möglichst strenge Miene auf. »Du bist wirklich unmöglich, Lionel. Ich weiß nicht, wie meine arme Schwester dich erträgt.« Sie raffte ihren verletzten Stolz zusammen und schritt in den hinteren Teil des Hauses auf der Suche nach den anderen Gästen. Doch ihr Herz hämmerte wie verrückt, und sie konnte noch immer die Berührung seiner Lippen auf ihrer Haut spüren. Lionel konnte ja nicht ahnen, welch gefährliches Spiel er da spielte, denn sein Kuss hatte etwas in ihr geweckt, das mit aller Macht unterdrückt werden musste, bevor es sie und alles, was ihr am Herzen lag, zerstörte.
»Natürlich musst du teilnehmen. Zieh dich sofort an und hör auf, so ein Theater zu machen.«
Clarice ballte die Fäuste. Es war Silvester, und sie hatte alles versucht, der Party und damit Lionel aus dem Weg zu gehen, doch anscheinend war Algernon ausnahmsweise einmal fest entschlossen, sie zu begleiten. »Ich habe Kopfschmerzen«, sagte sie.
»Dann nimm etwas ein.« Er betrachtete sein Spiegelbild und rückte seine Fliege gerade.
»Die
Weitere Kostenlose Bücher