Himmel über Tasmanien
dem allen einen Sinn abzugewinnen.
Clarice lag im Dunkeln und starrte an die Decke. Immer wieder kam sie in Gedanken zu derselben, unerfreulichen, aber zwingenden Schlussfolgerung. Sie knuffte die Kissen in Form und drehte sich auf die Seite, nicht willens, diesen hinterhältigen Gedanken zuzulassen. Das war unmöglich, lächerlich – die Hirngespinste einer betrübten, erschöpften alten Frau. Dennoch, sollte sich diese Theorie durch einen außergewöhnlichen Zufall doch als wahr erweisen, hatte sie keine Möglichkeit, einzugreifen und dieses verkorkste Affentheater zu beenden – und das flößte ihr Angst ein.
Kurz vor dem Morgengrauen gab Clarice auf und quälte sich aus dem Bett. Sie war völlig erschöpft, und obwohl sie sich stets damit gebrüstet hatte, für ihr Alter noch rüstig zu sein, spürte sie jedes einzelne ihrer siebzig Jahre. Sie schlüpfte in ihre Pantoffeln, zog den Morgenrock fest um sich und ging die Treppe hinunter in die Küche. Eine Tasse Tee würde sie beruhigen und hoffentlich die Dämonen der Nacht verscheuchen.
»Hallo, altes Mädchen«, begrüßte sie liebevoll den Labrador, der eingerollt in seinem Korb lag. »Freut mich zu sehen, dass wenigstens einer schlafen kann.«
Sie füllte den Kessel und setzte ihn auf die Herdplatte. Sie stöberte eine Tasse und zwei Untertassen auf, stellte sie auf den Tisch und schüttelte die Keksdose. Sie und Bess schätzten einen Keks zum Tee, was zu einem Morgenritual geworden war.
Sie hielt ihre Gedanken von ihren Sorgen fern, goss den Tee auf und schüttete etwas davon in eine Untertasse. Sie fügte Milch hinzu und stellte sie auf den Boden. »Bess? Du kannst doch unmöglich noch schlafen, komm, Alte, Tee ist fertig.«
Sie runzelte die Stirn, als ihr klar wurde, dass die Hündin nicht wie sonst schlurfte und schnüffelte oder ihre Gliedmaßen reckte. »Bess?«
Ihr Herz begann zu rasen, und ihr Mund wurde trocken, als sie sich hinkniete und eine zitternde Hand auf den weichen Kopf legte. »Bess, wach auf, Liebes. Ich habe dir Tee gekocht.«
Doch der treue alte Hund konnte sie nicht mehr hören.
Clarice sank zu Boden und legte ihre Wange an den reglosen, stillen Körper der Begleiterin, die sie als Welpe vor sechzehn Jahren mit nach Hause gebracht hatte. Ihr war, als würde ihre Welt allmählich aus den Fugen geraten, denn die starken Stützen, auf die sie sich immer verlassen hatte, wurden nach und nach fortgerissen.
Tränen flossen hemmungslos, sie schluchzte laut auf und verlieh damit allem Kummer Ausdruck, der sie umtrieb. Am Ende war der Brunnen der Verzweiflung übergelaufen.
Tasmanien, Januar 1895
Clarice hatte sich Sorgen gemacht in den Wochen, die sie brauchte, um ihre Angelegenheiten zu ordnen. Sie hatte das Haus und die meisten Möbel verkauft sowie Algernons umfangreiche Bibliothek, und alles andere wurde verpackt, umnach Tasmanien verschifft zu werden. Sie wusste nicht, was sie erwarten würde, wenn sie dort eintraf, folgerte aber, dass es klug wäre, ein kleines Haus in der Nähe von Eunice zu mieten, statt bei ihr und Gwen einzuziehen. Die Atmosphäre würde zu Anfang unweigerlich angespannt sein, und wenn sie ein wenig Distanz wahrte, könnte es die Sache vereinfachen. Über einen Agenten in Sydney ließ sie ein passendes Anwesen in Laufentfernung von Eunice’ Haus suchen.
Schließlich gelang es Clarice, auf der SS Norkoowa eine Überfahrt zu buchen. Sie war immer stolz darauf gewesen, seetüchtig zu sein, doch die Überquerung der Bass Strait hatte sie geschafft. Einem Zusammenbruch nahe traf sie an der Nordküste Tasmaniens ein. Sie war entschieden unsicher auf den Beinen, als sie an Land ging, und einer der Männer suchte ihr einen Stuhl und stellte ihn in den Schatten, damit sie das Umladen ihrer Kisten auf einen Rollwagen beaufsichtigen konnte.
Die Männer waren beinahe fertig, als sie ihre Schwester in einer Kutsche ankommen sah. Sie hinterließ Anweisungen, wohin die Kisten zu liefern seien, erhob sich vom Stuhl und sah Eunice nervös entgegen. Doch als sie näher kam, wurde die Nervosität von Sorge abgelöst, denn ihre Schwester war viel zu dünn, ihre Haut wächsern und ihr Gang unsicher. Vorbei war es mit der hübschen Frau mit dunklem Haar und lachenden Augen; an ihre Stelle war eine zerbrechliche, ergrauende ältere Dame getreten, die an einem Stock ging.
»Danke, dass du gekommen bist«, sagte Eunice förmlich. Sie gab ihr keinen Willkommenskuss, und ihre dunklen Augen erfassten Clarice’ gepflegten Rock,
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