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Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Titel: Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Überraschung als ihre Mitteilung, dass sie nicht mehr Queenie war, sondern Lena. Dabei konnte ich kaum erwartet haben, dass sie ihren Mann nach anderthalb Jahren Ehe immer noch Mr Vorguilla nannte. So lange hatte ich sie nicht mehr gesehen, und als ich sie unter den Wartenden auf dem Bahnhof erblickte, hätte ich sie fast nicht erkannt.
    Ihr Haar war schwarz gefärbt und um das Gesicht herum auftoupiert, in einem der Stile, die damals der Farah-Diba-Frisur folgten. Seine schöne Mais-Sirup-Farbe – oben golden und darunter dunkel – ebenso wie seine seidige Länge waren für immer verloren. Sie trug ein gelbes Kattunkleid, das ihren Körper umspannte und kurz über ihren Knien endete. Durch die dicken Kleopatra-Striche und die violetten Lidschatten wirkten ihre Augen kleiner, nicht größer, so als wollten sie sich verstecken. Sie hatte sich die Ohrläppchen durchstechen lassen, und goldene Reifen schaukelten daran.
    Ich sah, wie sie mich auch etwas überrascht betrachtete. Ich versuchte, frech und locker zu sein. Ich sagte: »Ist das ein Kleid oder eine Rüsche um deinen Po?« Sie lachte, und ich sagte: »Meine Herrn, war das heiß im Zug. Ich schwitze wie ein Schwein.«
    Ich hörte, wie meine Stimme klang, so quäkig und munter wie die meiner Stiefmutter Bet.
    Ich schwitze wie ein Schwein.
    Jetzt in der Straßenbahn zu Queenies Haus konnte ich nicht aufhören, so blöde zu reden. Ich fragte: »Sind wir noch im Geschäftsviertel?« Die höheren Häuser hatten wir bald hinter uns gelassen, aber ich fand nicht, dass man diesen Teil der Stadt für eine bessere Wohngegend halten konnte. Immer wieder ähnliche Häuser und Geschäfte – eine chemische Reinigung, ein Blumenladen, ein Lebensmittelgeschäft, ein Restaurant. Kisten mit Obst und Gemüse auf dem Bürgersteig, Schilder von Zahnärzten und Schneidern und Klempnern in den Fenstern im ersten Stock. Kaum ein Haus, das höher war, kaum ein Baum.
    »Das ist nicht das richtige Geschäftsviertel«, sagte Queenie. »Weißt du noch, wie ich dir gezeigt hab, wo Simpson’s ist? Wo wir in die Straßenbahn eingestiegen sind? Das ist das richtige.«
    »Dann sind wir bald da?«, fragte ich.
    Sie sagte: »Wir haben noch massig Zeit.«
    Dann sagte sie: »Noch viel Zeit. Stan mag auch nicht, wenn ich massig sage.«
    Die endlosen Wiederholungen oder vielleicht die Hitze machten mich unruhig und verursachten mir starke Übelkeit. Wir hielten meinen Koffer auf den Knien, und nur wenige Zentimeter vor meinen Fingern befanden sich der fette Nacken und die Glatze eines Mannes. Ein paar schwarze, schweißnasse lange Haare klebten an seiner Kopfhaut. Aus irgendeinem Grund musste ich an Mr Vorguillas Zähne im Arzneischränkchen denken, die Queenie mir gezeigt hatte, als sie für die Vorguillas nebenan arbeitete. Das war lange, bevor daran zu denken war, dass Mr Vorguilla zu Stan werden könnte.
    Zwei verklammerte Zähne lagen neben seinem Rasierapparat und dem Rasierpinsel und der Holzschale mit der haarigen und ekelhaften Rasierseife.
    »Das ist seine Brücke«, hatte Queenie gesagt.
    Seine Brücke?
    »Seine Zahnbrücke.«
    »Igitt«, sagte ich.
    »Die hat er in Reserve«, sagte sie. »Er trägt die andere.«
    »Igitt. Ist die nicht zum Kotzen?«
    Queenie legte mir die Hand auf den Mund. Sie wollte nicht, dass Mrs Vorguilla uns hörte. Mrs Vorguilla lag unten auf der Couch im Esszimmer. Sie hatte meistens die Augen zu, aber es konnte sein, dass sie nicht schlief.
     
    Als wir endlich aus der Straßenbahn stiegen, mussten wir eine steile Anhöhe hinauflaufen und versuchten ungeschickt, uns das Gewicht des Koffers zu teilen. Die Häuser glichen sich nicht völlig, obwohl es anfangs so aussah. Einige der Dächer senkten sich wie Mützen über die Hauswände oder aber das ganze Obergeschoss war wie ein Dach und mit Schindeln gedeckt. Die Schindeln waren dunkelgrün oder kastanienrot oder braun. Die Veranden reichten fast bis an den Bürgersteig, und die Zwischenräume zwischen den Häusern wirkten schmal genug, dass Nachbarn sich aus den Seitenfenstern die Hand geben konnten. Kinder spielten auf dem Bürgersteig, aber Queenie nahm von ihnen nicht mehr Notiz, als wären sie Vögel, die in den Ritzen pickten. Ein sehr dicker Mann, nackt von der Taille aufwärts, saß auf seiner Vortreppe und starrte uns so unverwandt und finster an, dass ich dachte, er wollte etwas zu uns sagen. Queenie marschierte an ihm vorbei.
    Auf halber Höhe bog sie ab und folgte einem von Mülltonnen gesäumten

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