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Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Titel: Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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hätte.
    Keine Antwort. Ich hämmerte auf das Holz. Mr Vorguilla würde sich sehr darüber ärgern, von mir geweckt zu werden. Ich drückte das Ohr an die Tür und lauschte, ob sich etwas rührte.
    »Mr Vorguilla. Mr Vorguilla. Tut mir leid, Sie zu wecken, Mr Vorguilla. Ist jemand zu Hause?«
    Ein Fenster im Haus auf der anderen Seite der Vorguillas wurde hochgeschoben. Mr Hovey, ein alter Junggeselle, wohnte dort mit seiner Schwester.
    »Benutz deine Augen«, rief Mr Hovey herunter. »Schau zur Auffahrt.«
    Mr Vorguillas Auto war weg.
    Mr Hovey knallte das Fenster herunter.
    Als ich die Küchentür aufmachte, sah ich meinen Vater und Bet mit Teetassen vor sich am Küchentisch sitzen. Eine Minute lang dachte ich, die Ordnung sei wiederhergestellt. Vielleicht hatten sie einen Anruf mit beruhigender Nachricht bekommen.
    »Mr Vorguilla ist nicht da«, sagte ich. »Sein Auto ist weg.«
    »Das wissen wir schon«, sagte Bet. »Wir wissen Bescheid.«
    Mein Vater sagte: »Schau, hier«, und schob einen Zettel über den Tisch.
    Ich heirate Mr Vorguilla
, stand darauf.
Gruß, Queenie.
    »Unter der Zuckerdose«, sagte mein Vater.
    Bet knallte ihren Teelöffel hin.
    »Der muss vor Gericht gestellt werden«, schrie sie. »Die muss in die Besserungsanstalt. Die Polizei muss kommen.«
    Mein Vater sagte: »Sie ist achtzehn, und wenn sie will, kann sie heiraten. Die Polizei wird deswegen keine Straßensperren errichten.«
    »Wer sagt, dass die unterwegs sind? Die haben sich in ein Motel verkrochen. Diese dumme Göre und dieser glupschäugige Affenarsch Vorguilla.«
    »Solche Reden bringen sie nicht zurück.«
    »Ich will sie nicht zurückhaben. Nicht mal, wenn sie auf Knien angerutscht käme. Sie hat sich ihr Bett gemacht, soll sie doch darin liegen mit ihrem glupschäugigen Stecher. Von mir aus kann er sie ins Ohr ficken.«
    »Das reicht«, sagte mein Vater.
     
    Queenie brachte mir zwei Spalttabletten, die ich mit der Cola einnehmen konnte.
    »Es ist irre, wie die Krämpfe nachlassen, sobald du verheiratet bist. Also – hat dein Vater dir von uns gesagt?«
    Als ich meinen Vater wissen ließ, dass ich für den Sommer Arbeit suchte, bevor ich im Herbst mit der Lehrerausbildung anfing, sagte er, vielleicht könne ich nach Toronto fahren und Queenie besuchen. Er sagte, sie habe ihm an sein Fuhrunternehmen geschrieben und ihn gefragt, ob er ihnen mit etwas Geld über den Winter hinweghelfen könnte.
    »Ich hätte ihm nie zu schreiben brauchen«, sagte Queenie, »wenn Stan nicht letztes Jahr eine Lungenentzündung gekriegt hätte.«
    Ich sagte: »Da habe ich erst erfahren, wo du bist.« Tränen stiegen mir in die Augen, ich wusste nicht, warum. Vielleicht, weil ich so glücklich gewesen war, als ich es erfuhr, so einsam, bevor ich es erfuhr, vielleicht, weil ich mir in dem Moment wünschte, dass sie sagte: »Natürlich hatte ich immer vor, mich mit
dir
in Verbindung zu setzen«, und weil sie es nicht sagte.
    »Bet weiß es nicht«, sagte ich. »Sie denkt, ich bin allein unterwegs.«
    »Ich hoffe doch«, sagte Queenie ruhig. »Ich meine, ich hoffe, sie weiß es nicht.«
    Ich hatte ihr viel von zu Hause zu erzählen. Ich erzählte ihr, dass das Fuhrunternehmen von drei Lastern auf ein Dutzend angewachsen war und dass Bet sich einen Bisammantel gekauft und ihr Geschäft erweitert hatte und jetzt Schönheitsbehandlungen in unserem Haus vornahm. Zu diesem Zweck hatte sie den Raum zurechtgemacht, in dem vorher mein Vater schlief, und er hatte sein Feldbett und seine
National Geographics
in sein Büro gebracht – eine Air-Force-Baracke, die er auf den Fuhrhof gekarrt hatte. Als ich am Küchentisch saß und für meinen High-School-Abschluss lernte, hatte ich Bet sagen hören: »An eine so zarte Haut sollten Sie nie einen Waschlappen ranlassen«, bevor sie einer Frau mit rauem Gesicht diverse Lotionen und Cremes andrehte. Und manchmal in nicht weniger beschwörendem, aber weniger optimistischen Ton: »Ich sage Ihnen, ich hatte das Böse, jawohl, das Böse, gleich nebenan im Nachbarhaus zu wohnen, und ich hatte überhaupt keinen Verdacht, denn das vermutet man ja nicht, oder? Ich denke immer das Beste von den Menschen. Bis ich von ihnen einen Tritt in den Hintern kriege.«
    »Stimmt«, sagte dann die Kundin. »Ich bin genauso.«
    Oder: »Man meint immer zu wissen, was Sorgen sind, aber man weiß nicht mal die Hälfte.«
    Hatte Bet die Frau an die Tür gebracht, dann stöhnte sie und sagte: »Wenn du ihr Gesicht im Dunkeln anfasst, merkst du

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