Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)
Kiesweg. Aus einem Fenster im ersten Stock rief eine Frau etwas für mich Unverständliches. Queenie rief hinauf: »Das ist bloß meine Schwester, sie besucht uns.«
»Unsere Hauswirtin«, sagte sie. »Sie und ihr Mann wohnen vorn und oben. Es sind Griechen. Sie spricht fast kein Englisch.«
Es stellte sich heraus, dass Queenie und Mr Vorguilla sich mit den Griechen das Badezimmer teilten. Man nahm sein eigenes Toilettenpapier mit – wenn man es vergaß, war keins da. Ich musste sofort dorthin, denn ich menstruierte heftig und musste die Binde wechseln. Noch Jahre später überkam mich beim Anblick bestimmter Straßen an heißen Tagen, bestimmter Farbtöne von braunen Ziegeln und dunkel angestrichenen Schindeln und beim Geräusch von Straßenbahnen die Erinnerung an Krämpfe im Unterleib, Wellen des Errötens, undichte Körperstellen, heiße Beschämung.
Es gab ein Schlafzimmer, in dem Queenie und Mr Vorguilla schliefen, ein weiteres Schlafzimmer, das als kleines Wohnzimmer diente, eine enge Küche und eine verglaste Veranda. Ich sollte auf der Liege in der Veranda schlafen. Dicht vor den Fenstern reparierten der Hauswirt und ein anderer Mann ein Motorrad. Der Geruch von Ol, Metall und Maschinenteilen vermischte sich mit dem Geruch reifer Tomaten in der Sonne. Aus einem Fenster im ersten Stock dröhnte Radiomusik.
»Etwas, was Stan nicht ausstehen kann«, sagte Queenie. »Dieses Radio.« Sie zog die geblümten Vorhänge zu, aber der Lärm und die Sonne drangen trotzdem hindurch. »Ich wünschte, ich hätte mir gefütterte Vorhänge leisten können«, sagte sie.
Ich hielt die in Toilettenpapier eingewickelte blutige Binde in der Hand. Sie brachte mir eine Papiertüte und schickte mich zu den Mülltonnen. »Egal, welche. Gleich da draußen. Nicht vergessen, nein? Und lass deine Schachtel nicht irgendwo rumliegen, wo er sie sehen kann; er hasst es, daran erinnert zu werden.«
Ich versuchte, ungezwungen zu sein und mich zu verhalten, als wäre ich zu Hause. »Ich muss mir ein hübsches leichtes Kleid wie deins besorgen«, sagte ich.
»Vielleicht kann ich dir eins machen«, sagte Queenie mit dem Kopf im Kühlschrank. »Ich möchte eine Cola, du auch? Ich geh einfach in den Laden, wo die Reste verkauft werden. Ich hab dieses Kleid für ungefähr drei Dollar gemacht. Welche Größe hast du jetzt eigentlich?«
Ich zuckte die Achseln. Ich sagte, dass ich abzunehmen versuchte.
»Naja. Vielleicht finden wir was.«
»Ich werde eine Dame heiraten, die ein kleines Mädchen etwa in deinem Alter hat«, hatte mein Vater gesagt. »Und dieses kleine Mädchen ist ohne Vater. Du musst mir deshalb etwas versprechen, und zwar, dass du sie nie damit hänseln oder was Gemeines darüber zu ihr sagen wirst. Es wird vorkommen, dass ihr euch streitet oder verschiedener Meinung seid, wie es Schwestern tun, aber das ist etwas, was du nie sagen darfst. Und wenn andere Kinder es sagen, darfst du nie deren Partei ergreifen.«
Um des Widerspruchs willen sagte ich, dass ich keine Mutter habe und keiner deswegen was Gemeines zu mir sage.
Mein Vater erwiderte: »Das ist etwas anderes.«
Er hatte mit allem Unrecht. Wir waren unserer Meinung nach nicht annähernd im selben Alter, denn Queenie war neun, als mein Vater Bet heiratete, und ich war sechs. Obwohl wir später, als ich eine Klasse übersprungen hatte und Queenie sitzen geblieben war, in der Schule näher aneinander rückten. Und ich habe nie gemerkt, dass irgendwer versuchte, zu Queenie gemein zu sein. Sie war ein Mädchen, mit dem alle befreundet sein wollten. Sie wurde als Erste in ein Baseballteam gewählt, obwohl sie eine unlustige Baseballspielerin war, und als Erste in eine Rechtschreibgruppe, obwohl ihre Rechtschreibung von Fehlern wimmelte. Außerdem gerieten wir nicht in Streit. Kein einziges Mal. Sie war sehr lieb zu mir, und ich war voller Bewunderung für sie. Ich hätte sie allein schon für ihr dunkelgoldenes Haar und ihre schläfrig wirkenden dunklen Augen, für ihr Aussehen und ihr Lachen angebetet. Ihr Lachen war süß und rau wie brauner Zucker. Die Überraschung war, dass sie bei all ihren Vorzügen gutherzig und liebenswürdig sein konnte.
Als ich am Morgen von Queenies Verschwinden aufwachte, an jenem Morgen zu Beginn des Winters, wusste ich sofort, dass sie nicht mehr da war.
Es war noch dunkel, zwischen sechs und sieben Uhr. Das Haus war kalt. Ich zog den großen wollenen braunen Bademantel an, den ich mir mit Queenie teilte. Wir nannten ihn Buffalo
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