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Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Titel: Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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des Lasters.
    Warum malte sie sich das alles aus, warum fügte sie diese Szene hinzu? Es geschah wegen dieses Augenblicks der Bloßstellung, des stechenden Gefühls von Scham und Stolz, das ihren Körper ergriff, während sie durch die (imaginäre) Empfangshalle schritt, und wegen des Klangs seiner Stimme, der Diskretion und Autorität, mit der er an der Rezeption etwas sagte, das sie nicht ganz mitbekam.
    Das könnte sein Tonfall im Drugstore unweit der Wohnung gewesen sein, nachdem er das Auto geparkt und gesagt hatte: »Bin gleich wieder da.« Die praktischen Vorkehrungen, die im Eheleben deprimierend und entmutigend wirkten, riefen unter diesen anderen Umständen bei ihr eine gewisse Hitze hervor, eine neuartige Trägheit und Unterwerfung.
     
    Nach Einbruch der Dunkelheit wurde sie wieder zurückgefahren, durch den Park und über die Brücke und durch West Vancouver, nur in geringer Entfernung am Haus von Jonas’ Eltern vorbei. Sie traf beinahe im letzten Moment an der Horseshoe Bay ein und ging auf die Fähre. Die letzten Tage im Mai zählen zu den längsten des Jahres, und trotz der Laternen an der Anlegestelle und der Scheinwerfer der Autos, die in den Bauch des Schiffes strömten, sah sie ein Leuchten am westlichen Himmel und davor den schwarzen Buckel einer Insel – nicht Bowen Island, sondern eine, deren Namen sie nicht wusste –, säuberlich wie ein Pudding im Rachen der Bucht platziert.
    Sie musste sich der Menge drängelnder Leiber anschließen, die die Treppe hinaufströmten, und als das Passagierdeck erreicht war, setzte sie sich auf den erstbesten Platz, den sie sah. Sie machte sich nicht einmal wie sonst die Mühe, sich einen Fensterplatz zu suchen. Sie hatte anderthalb Stunden vor sich, bis das Schiff auf der anderen Seite der Meerenge anlegte, und in dieser Zeit hatte sie sehr viel zu tun.
    Das Schiff hatte sich kaum in Bewegung gesetzt, schon fingen die Leute neben ihr an, sich zu unterhalten. Es waren keine zufälligen Gesprächspartner, die sich auf der Fähre begegnet waren, sondern Freunde oder Verwandte, die sich gut kannten und während der gesamten Überfahrt viel zu sagen finden würden. Also stand sie auf und ging hinaus, stieg zum obersten Deck hoch, auf dem meistens weniger Menschen waren, und setzte sich auf eine der Kisten, in denen sich die Schwimmwesten befanden. Sie verspürte Schmerzen an erwarteten und unerwarteten Stellen.
    Was sie ihrer Ansicht nach zu tun hatte, das war, sich an alles zu erinnern – und mit »erinnern« meinte sie alles im Geiste noch einmal durchleben – und es dann für immer wegtun. Das Erlebnis dieses Tages ordnen, so dass nichts davon herausspießte oder übrig blieb, alles wie etwas Kostbares einsammeln und dann wegschließen, Schluss damit.
    Sie klammerte sich an zwei Voraussagen, die erste bequem, und die zweite anfangs leicht genug einzuhalten, obwohl es ihr später zweifellos schwerer fallen würde.
    Ihre Ehe mit Pierre würde weitergehen, sie würde halten.
    Sie würde Asher nie wiedersehen.
    Beide erwiesen sich als richtig.
     
    Ihre Ehe hielt wirklich – noch über dreißig Jahre lang, bis Pierre starb. Während eines frühen und relativ leichten Stadiums seiner Krankheit las sie ihm vor, einige Bücher, die sie beide vor Jahren gelesen hatten und sich wieder vornehmen wollten. Eines davon war
Väter und Söhne.
Nachdem sie die Szene vorgelesen hatte, in der Basarow Anna Sergejewna seine heftige Liebe gesteht und Anna mit Abscheu reagiert, unterbrachen sie, um darüber zu diskutieren. (Nicht zu streiten – dafür waren sie zu zärtlich geworden.)
    Meriel wollte einen anderen Verlauf der Szene. Sie war der Meinung, dass Anna nicht so reagierte.
    »Das ist der Autor«, sagte sie. »Das spüre ich sonst kaum bei Turgenjew, aber hier spüre ich, es ist Turgenjew, der kommt und sie auseinander reißt, und er tut es, weil er damit eigene Zwecke verfolgt.«
    Pierre lächelte schwach. Alle seine Ausdrucksmöglichkeiten hatten sich verringert. »Du meinst, sie hätte nachgegeben?«
    »Nein. Nicht nachgegeben. Ich glaube ihr nicht, ich meine, sie ist ebenso getrieben wie er. Sie hätten es getan.«
    »Das ist romantisch. Du verrenkst die Situation, damit sie glücklich endet.«
    »Ich habe nicht gesagt, wie sie endet.«
    »Hör zu«, sagte Pierre geduldig. Er genoss solche Gespräche, aber sie bereiteten ihm Mühe, er musste sich zwischendurch ausruhen und Kraft sammeln. »Hätte Anna nachgegeben, dann, weil sie ihn liebt. Hinterher hätte sie

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