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Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Titel: Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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ihn nur umso mehr geliebt. So sind doch die Frauen? Ich meine, wenn sie verliebt sind? Und was hätte er getan – er wäre am nächsten Morgen verschwunden, ohne auch nur ein Wort zu ihr zu sagen. Das ist seine Natur. Er
hasst
es, sie zu lieben. Also wieso wäre das besser?«
    »Sie hätten etwas Gemeinsames. Ihr Erlebnis.«
    »Er würde es ziemlich bald vergessen, und sie würde an der Scham und der Zurückweisung sterben. Sie ist intelligent. Sie weiß das.«
    »Naja«, sagte Meriel und machte eine Pause, weil sie sich in die Ecke gedrängt fühlte. »Naja, das sagt Turgenjew nicht. Er sagt, sie ist völlig entsetzt. Er sagt, sie ist kalt.«
    »Ihre Intelligenz macht sie kalt. Intelligent bedeutet bei einer Frau: kalt.«
    »Nein.«
    »Ich meine, im neunzehnten Jahrhundert. Da war das so.«
     
    An dem Abend auf der Fähre, als Meriel dachte, gleich werde sie alles ordnen und forträumen, tat sie nichts dergleichen. Sondern sie durchlebte Welle um Welle intensiver Erinnerung. Und so erging es ihr – in langsam länger werdenden Abständen – noch viele Jahre lang. Sie stieß immer wieder auf Dinge, die ihr entfallen waren und die ihr immer noch einen Ruck versetzten. Sie hörte oder sah wieder etwas – ein Geräusch, das sie zusammen gemacht hatten, der eigentümliche Blick, den sie getauscht hatten, voll Erkennen und Ermutigung. Ein Blick, der auf seine Art ganz kalt war, doch zutiefst respektvoll und intimer als jeder Blick, den Verheiratete tauschen würden oder Menschen, die einander irgendetwas schuldeten.
    Sie erinnerte sich an seine graubraunen Augen, an seine wettergegerbte Gesichtshaut, an den Kreis wie eine alte Narbe neben seiner Nase, an die glatte Breite seiner Brust, als er sich von ihr aufbäumte. Aber sie hätte keine brauchbare Beschreibung von seinem Aussehen liefern können. Sie meinte, seine Gegenwart von Anfang an so stark gespürt zu haben, dass normale Beobachtung unmöglich war. Plötzliche Erinnerungen sogar an die frühen, unsicheren und tastenden Momente veranlassten sie, sich innerlich zusammenzukrümmen, als wollte sie die rohe Überraschung ihres Körpers, das Lärmen des Begehrens bewahren.
Mein-Liebster-mein-Liebster
murmelte sie dann heiser und mechanisch vor sich hin, eine lindernde Geheimformel.
     
    Als sie sein Foto in der Zeitung sah, traf sie kein unmittelbarer Schmerz. Der Ausschnitt war von Jonas’ Mutter geschickt worden, die zeit ihres Lebens darauf bestand, in Kontakt zu bleiben und sie an Jonas zu erinnern, wann immer sich dazu Gelegenheit bot. »Erinnern Sie sich an den Arzt auf Jonas’ Beerdigung?«, hatte sie über die kleine Überschrift geschrieben. »Buscharzt stirbt bei Flugzeugabsturz«. Es war bestimmt eine alte Aufnahme, obendrein in der Zeitung unscharf abgedruckt. Ein recht bulliges Gesicht, das in die Kamera lächelte – was sie von ihm nie erwartet hätte. Er war nicht in seinem eigenen Flugzeug umgekommen, sondern bei einem Hubschrauberabsturz während eines Noteinsatzes. Sie zeigte Pierre den Ausschnitt. Sie fragte: »Bist du je dahinter gekommen, warum er auf der Beerdigung war?«
    »Vielleicht waren sie irgendwie Kameraden. All die verlorenen Seelen da oben im Norden.«
    »Worüber hast du dich mit ihm unterhalten?«
    »Er hat mir erzählt, wie er Jonas mal in seiner Maschine mitgenommen hat, um ihm das Fliegen beizubringen. Er hat gesagt: ›Nie wieder. ‹«
    Dann fragte er: »Hat er dich nicht irgendwohin gefahren? Wohin noch gleich?«
    »Nach Lynn Valley. Um Tante Muriel zu besuchen.«
    »Und worüber habt ihr euch unterhalten?«
    »Ich fand es schwer, mich mit ihm zu unterhalten.«
    Die Tatsache, dass er tot war, schien nicht viel Wirkung auf ihre Tagträume zu haben – wenn man sie so nennen konnte. Diejenigen, in denen sie sich zufällige Begegnungen oder sogar verzweifelt arrangierte Zusammenkünfte ausmalte, hatten ohnehin keine Verbindung mit der Wirklichkeit und änderten sich nicht, nur weil er tot war. Sie mussten sich abnutzen, ohne dass sie darauf Einfluss hatte oder es je verstand.
    Auf ihrer Heimfahrt an jenem Abend hatte es zu regnen begonnen, wenn auch nur leicht. Sie war draußen an Deck der Fähre geblieben. Sie stand auf und ging umher und konnte sich nicht wieder auf den Deckel der Kiste mit den Rettungswesten setzen, ohne sich einen großen nassen Fleck im Kleid zu holen. Also blieb sie stehen, starrte in den Schaum, der im Kielwasser des Schiffs aufgewirbelt wurde, und ihr kam der Gedanke, dass es in gewissen

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