Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)
keinen Unterschied zu Schmirgelpapier.«
Queenie schien nicht daran interessiert zu sein, diese Dinge zu hören. Und es war sowieso nicht viel Zeit. Bevor wir unsere Colas ausgetrunken hatten, hörten wir rasche harte Schritte auf dem Kies, und Mr Vorguilla kam in die Küche.
»Schau mal, wer hier ist«, rief Queenie. Sie stand halb auf, wie um ihn zu berühren, aber er steuerte auf die Spüle zu.
Ihre Stimme war so voll lachender Überraschung, dass ich mich fragte, ob sie ihm überhaupt etwas von meinem Brief oder von meinem Kommen gesagt hatte.
»Es ist Chrissy«, sagte sie.
»Das sehe ich«, sagte Mr Vorguilla. »Du musst die Hitze mögen, Chrissy, wenn du im Sommer nach Toronto kommst.«
»Sie will sich Arbeit suchen«, sagte Queenie.
»Und hast du irgendeine Ausbildung?«, fragte Mr Vorguilla. »Hast du eine Ausbildung für eine Arbeitsstelle in Toronto?«
Queenie sagte: »Sie hat ihren High-School-Abschluss.«
»Wir wollen hoffen, dass das reicht«, sagte Mr Vorguilla. Er füllte ein Glas mit Leitungswasser und trank es, mit dem Rücken zu uns, in einem Zug aus. Genauso wie früher, wenn Mrs Vorguilla und Queenie und ich in dem anderen Haus, dem Haus neben unserem, am Küchentisch saßen. Mr Vorguilla kam herein, von einer Probe irgendwo oder zu einer Pause zwischen Klavierstunden im Vorderzimmer. Beim Geräusch seiner Schritte warnte Mrs Vorguilla uns mit einem Lächeln. Und wir schauten alle hinunter auf unsere Scrabble-Buchstaben, ließen ihm die Wahl, ob er von uns Notiz nehmen wollte oder nicht. Manchmal wollte er nicht. Das Offnen des Küchenschranks, das Aufdrehen des Wasserhahns, das Abstellen des Glases waren wie eine Folge kleiner Explosionen. Als wollte er allen verwehren, auch nur zu atmen, solange er da war.
Wenn er in der Schule Musikunterricht gab, war es ebenso. Er betrat das Klassenzimmer mit den Schritten eines Mannes, der keine Minute zu verlieren hat, klopfte einmal mit dem Zeigestock, und es wurde angefangen. Er ging mit gespitzten Ohren durch die Reihen, die hervorstehenden blauen Augen wachsam, der Gesichtsausdruck angespannt und streitlustig. Jeden Moment konnte er an deinem Pult stehen bleiben, sich deinen Gesang anhören, um zu prüfen, ob du nur die Lippen bewegtest oder falsch sangst. Dann beugte er sich langsam vor, seine Augen glupschten dich an und seine Hände fuchtelten, damit die anderen Stimmen verstummten und deine Schande offenbar wurde. Und es hieß, dass er mit seinen diversen Chören und Gesangvereinen ebenso diktatorisch umsprang. Trotzdem war er bei seinen Sängern beliebt, besonders bei den Damen. Sie strickten ihm Sachen zu Weihnachten. Socken und Schals und Handschuhe, damit er auf seinen Wegen von Schule zu Schule und von Chor zu Chor nicht fror.
Als Queenie den Haushalt führte, nachdem Mrs Vorguilla dafür zu krank war, fischte sie aus einer Schublade ein gestricktes Gebilde und wedelte damit vor meiner Nase. Es war ohne den Namen der Spenderin eingetroffen.
Mir war rätselhaft, was das war.
»Das ist ein Zipfelwärmer«, sagte Queenie. »Mrs Vorguilla hat gesagt, zeig’s ihm nicht, er wird bloß wütend. Weißt du nicht, was ein Zipfelwärmer ist?«
Ich sagte: »Igitt.«
»Ist doch bloß ein Witz.«
Sowohl Queenie als auch Mr Vorguilla mussten abends arbeiten gehen. Mr Vorguilla spielte in einem Restaurant Klavier. Er trug einen Smoking. Und Queenie verkaufte Kinokarten. Das Kino lag nur wenige Querstraßen entfernt, also begleitete ich sie. Und als ich sie im Kassenschalter sah, verstand ich, dass das Make-up und das gefärbte, toupierte Haar und die großen Ohrringe doch nicht so aus dem Rahmen fielen. Queenie sah aus wie einige der Mädchen, die auf der Straße vorbeigingen oder die hereinkamen, um sich mit ihrem Freund den Film anzugucken. Und sie sah ganz wie einige der Mädchen auf den Filmplakaten um sie herum aus. Sie sah aus, als stünde sie in Verbindung mit der Welt dramatischer Abenteuer, hitziger Liebesgeschichten und tödlicher Gefahren, die drinnen auf der Leinwand abgebildet wurde.
Sie sah – mit den Worten meines Vaters – aus, als brauchte sie sich neben niemandem zu verstecken.
»Warum schaust du dich nicht eine Weile in der Stadt um?«, hatte sie zu mir gesagt. Aber ich hatte das Gefühl aufzufallen. Ich konnte mir nicht vorstellen, in einem Café zu sitzen, Kaffee zu trinken und der Welt kundzutun, dass ich nichts zu tun hatte und nicht wusste, wohin. Oder in ein Geschäft zu gehen und Kleidung anzuprobieren, die
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