Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)
ich mir nicht im Traum leisten konnte. Ich stieg wieder die Anhöhe hinauf, winkte der Griechin zu, die etwas aus dem Fenster rief. Ich schloss mit Queenies Schlüssel auf.
Ich setzte mich auf die Liege in der Veranda. Es gab nichts, wo ich meine mitgebrachten Sachen aufhängen konnte, und ich dachte, dass es wahrscheinlich ohnehin keine gute Idee war auszupacken. Jedes Anzeichen, dass ich länger blieb, konnte Mr Vorguilla verärgern.
Ich fand, dass Mr Vorguillas Aussehen sich verändert hatte, ebenso wie Queenies. Aber anders als sie hatte er sich nicht in die Richtung eines für mich harten und fremden großstädtischen Schönheitsideals verändert. Sein früher rötlich-graues Haar war jetzt völlig grau, und sein Gesichtsausdruck – immer bereit, in Empörung auszubrechen, sowie er eine Respektlosigkeit witterte oder einen Fehler hörte oder einfach, weil etwas in seinem Haus nicht da war, wo es sein sollte – zeugte jetzt von anhaltendem Verdruss, als würde er gerade beleidigt oder müsste ständig erdulden, dass man sich direkt vor seiner Nase ungestraft schlecht benahm.
Ich stand auf und ging durch die Wohnung. Man kann die Räume, in denen andere leben, nie genau betrachten, solange sie anwesend sind.
Die Küche war das hübscheste Zimmer, wenn auch zu dunkel. Queenie ließ Efeu um das Fenster über der Spüle wachsen, und sie hatte hölzerne Kochlöffel in einen hübschen henkellosen Becher gesteckt, genau wie Mrs Vorguilla es immer getan hatte. Im Wohnzimmer stand das Klavier, dasselbe Klavier, das in dem anderen Wohnzimmer gestanden hatte. Ferner ein Sessel, ein Bücherregal aus Ziegelsteinen und Brettern, ein Plattenspieler und dazu auf dem Fußboden zahlreiche Schallplatten. Kein Fernseher. Keine Walnuss-Schaukelstühle oder Übergardinen. Nicht einmal die Stehlampe mit den japanischen Szenen auf dem Pergamentschirm. Doch all diese Dinge waren an einem verschneiten Tag nach Toronto transportiert worden. Ich war über Mittag zu Hause gewesen und hatte den Umzugslaster gesehen. Bet konnte sich nicht vom Fenster in der Haustür losreißen. Schließlich vergaß sie alle Würde, die sie sonst gern Fremden gegenüber an den Tag legte, machte die Tür auf und rief den Möbelpackern etwas zu. »Fahrt zurück nach Toronto und sagt ihm, wenn er sich hier nochmal blicken lässt, wird er’s bereuen.«
Die Möbelpacker winkten fröhlich, als wären sie solche Szenen gewohnt, und vielleicht waren sie es auch. Wenn man Möbel fortschaffte, musste man offenbar auf Lästereien und Beschimpfungen gefasst sein.
Aber wo war das alles geblieben? Verkauft, dachte ich. Es musste verkauft worden sein. Mein Vater hatte gesagt, es höre sich danach an, als tue Mr Vorguilla sich schwer damit, in seinem Beruf in Toronto unterzukommen. Und Queenie hatte etwas davon gesagt, »in Rückstand« zu sein. Sie hätte meinem Vater nie geschrieben, wenn sie nicht in Rückstand geraten wären.
Sie mussten die Möbel vor Queenies Brief verkauft haben.
Im Bücherregal sah ich die
Enzyklopädie der Musik
und den
Opernführer
und die
Großen Komponisten.
Außerdem ein großes dünnes Buch mit schönem Umschlag –
Die Sinnsprüche Omars des Zeltmachers –
, das Mrs Vorguilla oft neben sich auf der Couch gehabt hatte.
Es gab ein weiteres Buch mit ähnlichem Schmuckumschlag, an dessen genauen Titel ich mich nicht erinnere. Etwas im Titel signalisierte mir, dass mir das Buch gefallen könnte. Das Wort »blumig« oder »wohlriechend«. Ich schlug es auf, und ich erinnere mich noch gut an den ersten Satz, den ich las.
»Die jungen Odalisken im Harim waren auch wohl unterwiesen im delikaten Gebrauch ihrer Fingernägel.«
Ich wusste nicht genau, was eine Odaliske war, aber das Wort »Harim« (warum nicht »Harem«?) brachte mich auf eine Spur. Und ich musste weiterlesen, herausbekommen, was für Fertigkeiten sie sich erworben hatten. Ich las immer weiter, ungefähr eine Stunde lang, dann ließ ich das Buch auf den Boden fallen. Ich empfand Erregung und Abscheu, staunte ungläubig. War es das, wofür die Erwachsenen sich interessierten? Sogar das Muster auf dem Umschlag, die hübschen, ineinander verschlungenen Ranken, fand ich nun ein wenig feindselig und verworfen. Ich hob das Buch auf, um es an seinen Platz zurückzustellen, dabei klappte es in meinen Händen auf, und ich sah die Namen auf dem Vorsatzblatt. Stan und Marigold Vorguilla. Mit weiblicher Handschrift. Stan und Marigold.
Ich dachte an Mrs Vorguillas hohe weiße Stirn
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