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Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Titel: Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Beziehung mit Mr Vorguilla gemahnte. Das natürlich auch. Aber außerdem, weil es das Gefühl vermittelte, dass sie ihn völlig neu erfunden hatte. Ein neuer Mensch. Stan. Als hätte es nie einen Mr Vorguilla gegeben, den wir beide gekannt hatten – geschweige denn eine Mrs Vorguilla.
    Stan hatte jetzt nur noch erwachsene Schüler – Erwachsene waren ihm eigentlich wesentlich lieber als Schulkinder –, also brauchten sie sich über Spiele und andere Überraschungen, wie man sie für Kinder plant, nicht den Kopf zu zerbrechen. Sie veranstalteten das Fest an einem Sonntagabend, weil alle anderen Abende durch Stans Arbeit im Restaurant und durch Queenies im Kino besetzt waren.
    Die Griechen brachten selbst gemachten Wein mit, und einige der Schüler brachten Eierflip und Rum und Sherry mit. Andere brachten Schallplatten mit, zu denen man tanzen konnte. Sie hatten sich gedacht, dass Stan keine Platten mit solcher Musik haben würde, und sie hatten Recht.
    Queenie machte Würstchen im Schlafrock und Lebkuchen, und die Griechin brachte eigenes Gebäck mit. Alles war gut. Das Fest war ein Erfolg. Queenie tanzte mit einem jungen Chinesen namens Andrew, der eine Platte mitgebracht hatte, für die sie schwärmte.
    »Dreh dich um, dreh dich um«, sagte sie, und ich drehte den Kopf zur Seite. Sie lachte und sagte: »Nein, nein, dich hab ich nicht gemeint. Das ist die Platte. Der Song. Der ist von den Byrds.«
    »Dreh dich um, dreh dich um«, sang sie. »Alles hat seine Zeit …«
    Andrew studierte Zahnmedizin. Aber er wollte lernen, die Mondscheinsonate zu spielen. Stan sagte, dafür werde er viel Zeit brauchen. Andrew war geduldig. Er erzählte Queenie, dass er es sich nicht leisten konnte, über Weihnachten nach Northern Ontario nach Hause zu fahren.
    »Ich dachte, er ist aus China«, sagte ich.
    »Nein, kein chinesischer Chinese. Er ist von hier.«
    Sie spielten dann doch ein Kinderspiel. Sie spielten die Reise nach Jerusalem. Alle waren inzwischen ausgelassen. Sogar Stan. Er zog Queenie auf seinen Schoß, als sie vorbeilief, und wollte sie nicht mehr loslassen. Und dann, als alle gegangen waren, wollte er sie nicht aufräumen lassen. Er wollte nur, dass sie ins Bett kam.
    »Du weißt ja, wie die Männer sind«, sagte Queenie. »Hast du schon einen Freund oder was?«
    Ich sagte nein. Der letzte Mann, den mein Vater als Fahrer eingestellt hatte, kam ständig ins Haus, um etwas Unwichtiges auszurichten, und mein Vater sagte: »Der will bloß eine Gelegenheit, mit Chrissy zu reden.« Ich war jedoch kühl zu ihm, und er hatte sich bis jetzt nicht getraut, sich mit mir zu verabreden.
    »Also weißt du über diese Sachen eigentlich noch nichts?«, fragte Queenie.
    Ich sagte: »Doch, na klar.«
    »Hm-hm«, sagte sie.
    Die Festgäste hatten fast alles aufgegessen, nur den Kuchen nicht. Davon aßen sie nicht viel, aber Queenie war nicht beleidigt. Er war sehr gehaltvoll, und bis sie zu ihm gelangten, waren sie schon von den Würstchen im Schlafrock und den anderen Sachen satt. Außerdem hatte er keine Zeit gehabt, zu reifen, wie das Kochbuch es vorschrieb, also war sie ganz froh, dass so viel davon übrig war. Bevor Stan sie wegzog, dachte sie noch, dass sie den Kuchen in ein weingetränktes Tuch wickeln und an einen kühlen Ort stellen musste. Entweder dachte sie nur daran, oder sie tat es wirklich, und am Morgen sah sie, dass der Kuchen nicht mehr auf dem Tisch stand, also nahm sie an, sie habe es getan. Sie dachte: Gut, der Kuchen ist weggestellt.
    Ein oder zwei Tage später sagte Stan: »Komm, wir essen ein Stück Kuchen.« Sie sagte: »Ach, lass ihn noch ein bisschen reifen«, aber er bestand darauf. Sie ging an den Küchenschrank und dann an den Kühlschrank, aber der Kuchen war nicht da. Sie suchte überall und konnte ihn nicht finden. Sie dachte daran zurück, als sie ihn auf dem Tisch gesehen hatte. Und sie meinte sich zu erinnern, dass sie ein sauberes Tuch geholt und in Wein getaucht und sorgfältig um den übrig gebliebenen Kuchen gewickelt hatte. Und dann das Ganze noch in Wachspapier eingepackt hatte. Aber wann hatte sie das getan? Hatte sie es getan oder nur davon geträumt? Sie versuchte, sich zu sehen, als sie ihn wegstellte, aber ihr Gedächtnis setzte aus.
    Sie durchsuchte den ganzen Küchenschrank, aber sie wusste, dass der Kuchen zu groß war, um dort versteckt zu sein. Dann sah sie im Herd nach und sogar an blödsinnigen Stellen wie ihren Kommodenschubladen und unter dem Bett und im Kleiderschrank. Er war

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