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Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Titel: Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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ständig vor und zurück, und man kann nichts daran ändern. Sie werden schon sehen, wie das so ist, wenn Sie erst mal öfter hier waren. Sie werden lernen, das nicht alles so ernst zu nehmen. Lernen, es zu nehmen, wie’s Tag für Tag kommt.«
     
    Tag für Tag. Aber es ging nicht wirklich vor und zurück, und er gewöhnte sich nicht daran, wie es war. Fiona dagegen schien sich an ihn zu gewöhnen, aber nur wie an einen hartnäckigen Besucher, der sich aus irgendeinem Grund für sie interessierte. Oder vielleicht sogar wie an jemanden, der lästig fiel, den sie das aber nach ihren alten Höflichkeitsregeln nicht spüren lassen durfte. Sie behandelte ihn mit zerstreuter, umgänglicher Freundlichkeit, die ihn daran hinderte, ihr die Frage zu stellen, die sich am meisten aufdrängte. Er konnte sie nicht fragen, ob sie noch wusste, dass er seit nahezu fünfzig Jahren ihr Ehemann war. Er gewann den Eindruck, dass ihr solch eine Frage sehr peinlich wäre – peinlich nicht für sie, sondern für ihn. Sie hätte etwas geniert gelacht und ihn mit ihrer Höflichkeit und ihrem Befremden in tödliche Verlegenheit gebracht und am Ende weder ja noch nein gesagt. Oder sie hätte entweder das eine oder das andere auf eine Weise gesagt, die zutiefst unbefriedigend war.
    Kristy war die einzige Pflegerin, mit der er reden konnte. Einige der anderen behandelten das Ganze als Witz. Ein abgebrühtes altes Schlachtross lachte ihm ins Gesicht. »Der Aubrey und die Fiona? Die hat’s wirklich schlimm erwischt, was?«
    Kristy erzählte ihm, dass Aubrey eine Firma vertreten hatte, die Unkrautvernichter – »und all so’n Zeugs« – an die Farmer verkaufte.
    »Er war ein feiner Kerl«, sagte sie, und Grant war nicht klar, ob das bedeuten sollte, dass Aubrey früher zu den Leuten ehrlich und redlich und freundlich war oder dass er früher gut reden konnte und gut angezogen war und einen guten Wagen fuhr. Wahrscheinlich beides.
    Und dann, als er noch gar nicht sehr alt und noch nicht mal im Ruhestand war – sagte sie –, hatte er sich ein ungewöhnliches Leiden zugezogen.
    »Normalerweise wird er von seiner Frau versorgt. Sie pflegt ihn zu Hause. Sie hat ihn nur vorübergehend hergebracht, damit sie sich mal erholen kann. Ihre Schwester wollte, dass sie nach Florida fährt. Sie hatte eine schwere Zeit, man hätte von einem Mann wie ihm nie erwartet … Sie sind bloß irgendwohin in Urlaub gefahren, und er hat sich was geholt, irgendeinen Erreger, und bekam schrecklich hohes Fieber. Und davon ist er ins Koma gefallen, und danach war er, wie er jetzt ist.«
    Er fragte sie nach den engeren Beziehungen zwischen Heimbewohnern. Gingen die je zu weit? Er war jetzt fähig, einen nachsichtigen Ton anzuschlagen, der ihm hoffentlich Zurechtweisungen ersparen würde.
    »Hängt davon ab, was Sie meinen«, sagte sie. Sie schrieb weiter in ihr Stationsbuch, während sie überlegte, was sie ihm antworten sollte. Als sie mit dem, was sie notieren musste, fertig war, sah sie mit offenem Lächeln zu ihm auf.
    »Die Probleme, die wir hier haben, komisch, aber die haben wir oft mit solchen, die sich gar nicht so angefreundet haben. Kennen sich eigentlich überhaupt nicht, wissen man gerade, ist das ein Mann oder eine Frau? Man sollte meinen, es sind die alten Knaben, die versuchen, zu den alten Frauen ins Bett zu kriechen, aber meistens ist es umgekehrt. Die alten Frauen sind hinter den alten Männern her. Sind wohl noch nicht so am Ende, denk ich mal.«
    Sie hörte auf zu lächeln, als fürchtete sie, zu viel gesagt zu haben oder grob gewesen zu sein.
    »Verstehen Sie mich nicht falsch«, sagte sie. »Ich meine nicht Fiona. Fiona ist eine Dame.«
    Aber was ist mit Aubrey?, wollte Grant schon fragen. Doch dann fiel ihm ein, dass Aubrey im Rollstuhl saß.
    »Sie ist eine wirkliche Dame«, sagte Kristy in so entschiedenem und beruhigendem Ton, dass Grant überhaupt nicht beruhigt war. Im Geiste sah er Fiona vor sich, in einem ihrer langen, mit Lochstickerei und blauer Borte verzierten Nachthemden, wie sie schelmisch die Bettdecke eines alten Mannes lupfte.
    »Also manchmal frage ich mich …«, sagte er.
    Kristy sagte scharf: »Was fragen Sie sich?«
    »Ich frage mich, ob sie uns nicht allen etwas vormacht?«
    »Was vormacht?«, sagte Kristy.
     
    An den meisten Nachmittagen war das Paar am Kartentisch zu finden. Aubrey hatte große Hände mit dicken Fingern. Es fiel ihm schwer, seine Karten zu handhaben. Fiona mischte und gab für ihn und machte manchmal

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