Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)
unfähig war, sich zurückzuziehen. Sogar zu Hause, wenn er an seinem Schreibtisch arbeitete oder sauber machte oder nötigenfalls Schnee schippte, blieb ein tickendes Metronom in seinem Kopf auf Wiesensee fixiert, auf seinen nächsten Besuch. Manchmal kam er sich vor wie ein störrischer Junge, der trotz aller Hoffnungslosigkeit darauf beharrt, seiner Angebeteten nachzusteigen, manchmal wie einer jener armen Teufel, die berühmten Frauen überallhin nachlaufen, überzeugt, dass diese Frauen sich eines Tages umdrehen und ihre wahre Liebe erkennen werden.
Er riss sich zusammen und reduzierte seine Besuche auf den Mittwoch und den Samstag. Außerdem nahm er sich vor, auch anderes im Heim zu beobachten, als sei er eine Art unabhängiger Besucher, jemand, der Heime inspizierte oder eine soziologische Studie erstellte.
Die Samstage brachten Wochenendunruhe und Spannungen mit sich. Familien trafen in Scharen ein. Mütter führten meistens die Oberaufsicht, sie waren wie fröhliche, aber energische Schäferhunde, die Mann und Kinder zusammenhielten. Nur die Kleinkinder waren unbeeindruckt. Sie sahen sofort die grünen und weißen Quadrate auf den Fußböden, wählten eine Farbe zum Begehen aus und die andere zum Überspringen. Die Frecheren versuchten, auf Rollstühlen mitzufahren. Einige ließen sich trotz Schelte nicht von diesen Spielen abbringen und mussten ins Auto verbannt werden. Und nur allzu gern, allzu bereitwillig übernahm ein älteres Kind oder der Vater die Ausführung der Verbannung und entzog sich so der Besuchspflicht.
Es waren die Frauen, die das Gespräch in Gang hielten. Männer machte die Situation unbeholfen, Teenager schien sie anzuwidern. Die Besuchten fuhren im Rollstuhl oder stapften am Krückstock oder gingen steif und ohne Hilfe der Prozession voran, stolz auf die Besucherzahl, aber unter diesem Stress mit etwas leerem Blick oder verzweifelt schwatzend. Und jetzt, umgeben von so vielerlei Bewohnern der Außenwelt, sahen die Bewohner dieser Innenwelt doch nicht so normal aus. Die Barthaare am Kinn alter Frauen mochten bis zu den Wurzeln wegrasiert sein, schlimme Augen mochten von Augenklappen oder dunklen Brillengläsern verdeckt sein, und unpassende Äußerungen mochten durch Medikamente unterdrückt werden, aber es blieb eine Eisschicht, eine gespenstische Starre – als wären sie zufrieden, Erinnerungen ihrer selbst zu werden, letzte Fotos.
Grant verstand jetzt besser, wie Mr Farquar sich gefühlt haben musste. Die Menschen hier – sogar diejenigen, die sich an keinerlei Aktivität beteiligten, sondern nur herumsaßen und auf Türen starrten oder zum Fenster hinaussahen – durchlebten im Kopf ein geschäftiges Leben (ganz zu schweigen vom Leben ihres Körpers, den unheilsamen Verlagerungen in ihren Eingeweiden, dem Stechen und Zwicken überall), und das war ein Leben, das vor Besuchern in den meisten Fällen nicht gut beschrieben oder erwähnt werden konnte. Ihnen blieb nichts weiter übrig, als sich irgendwie voranzubewegen und zu hoffen, dass ihnen irgendetwas einfiel, das vorgezeigt werden konnte oder Stoff für eine Unterhaltung hergab.
Vom Wintergarten ließ sich etwas hermachen, auch von dem großen Fernsehbildschirm. Väter fanden, das sei doch etwas. Mütter sagten, die Farne seien prächtig. Bald setzten sich alle an kleine Tische und aßen Eiscreme – dem sich nur die Teenager verweigerten, die vor Ekel starben. Frauen wischten den Sabber von zitternden alten Kinnen, und Männer sahen weg.
Dieses Ritual musste eine gewisse Befriedigung spenden, und vielleicht würden sogar die Teenager eines Tages froh sein, dass sie gekommen waren. Grant kannte sich mit Familien nicht aus.
Aubrey wurde offenbar weder von Kindern noch von Enkelkindern besucht, und da sie nicht Karten spielen konnten – denn die Tische wurden von den Eiscremefamilien in Anspruch genommen –, blieben er und Fiona dem Samstagsaufmarsch fern. Der Wintergarten war dann viel zu belebt für ihre intimen Gespräche.
Die konnten natürlich hinter Fionas geschlossener Tür stattfinden. Grant brachte es nicht fertig anzuklopfen, obwohl er eine Weile davor stand und die Disney-Rotkehlchen mit intensiver, wahrhaft bösartiger Abneigung anstarrte.
Oder sie konnten in Aubreys Zimmer sein. Aber er wusste nicht, wo das war. Je mehr er das Heim erkundete, desto mehr Korridore und Sitzecken und Rampen entdeckte er, und auf seinen Wanderungen konnte es ihm immer noch passieren, dass er sich verlief. Er nahm sich ein
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