Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)
enthusiastischer, liebenswürdiger. Jinny machte das inzwischen kaum noch zu schaffen – sie waren seit einundzwanzig Jahren zusammen. Außerdem hatte sie sich verändert – als Reaktion darauf, dachte sie immer – und war reservierter und ein wenig ironisch geworden. Manche Maskeraden waren eben notwendig oder zu sehr zur Gewohnheit geworden, um abgelegt zu werden. Wie Neals antiquierte Erscheinung – das bunte Tuch um die Stirn, der struppige graue Pferdeschwanz, der kleine goldene Ohrring, der im Licht so blitzte wie die Goldeinfassungen seiner Zähne, dazu seine abgetragenen Revoluzzerklamotten.
Während sie beim Arzt war, hatte er das Mädchen abgeholt, das ihnen jetzt zur Hand gehen sollte. Er kannte sie aus dem Jugendgefängnis, in dem er Lehrer war und in dem sie in der Küche gearbeitet hatte. Das Jugendgefängnis lag gleich außerhalb der Stadt, in der sie wohnten, ungefähr zwanzig Meilen entfernt. Das Mädchen hatte den Küchenjob vor ein paar Monaten aufgegeben und den Haushalt einer Farmersfamilie besorgt, in der die Mutter erkrankt war. Irgendwo nicht weit von dieser größeren Stadt. Zum Glück war sie jetzt frei.
»Was ist aus der Frau geworden?«, hatte Jinny gefragt. »Ist sie gestorben?«
Neal sagte: »Sie ist ins Krankenhaus gekommen.«
»Läuft aufs selbe hinaus.«
Sie mussten in verhältnismäßig kurzer Zeit eine ganze Reihe von Vorkehrungen treffen. Aus dem Vorderzimmer ihres Hauses alle Akten rausschaffen, die Zeitungen und Zeitschriften mit wichtigen Artikeln, die noch nicht auf Diskette waren – sie hatten die Regale gefüllt, die an den Wänden des Zimmers bis zur Decke reichten. Auch die beiden Computer, die alten Schreibmaschinen, den Drucker. All das musste – vorübergehend, obwohl das niemand aussprach – im Haus von jemand anders untergebracht werden. Das Vorderzimmer war als Krankenzimmer vorgesehen.
Jinny hatte zu Neal gesagt, dass er wenigstens einen Computer behalten sollte, im Schlafzimmer. Aber er hatte das abgelehnt. Er sprach es nicht aus, aber sie verstand, dass er der Meinung war, dafür würde er keine Zeit haben.
Neal hatte in den Jahren, seit sie mit ihm zusammen war, fast seine gesamte Freizeit mit dem Organisieren und Durchführen von Aktionen verbracht. Nicht nur politische Aktionen (die auch), sondern Bürgerinitiativen, um historische Gebäude und Brücken und Friedhöfe zu retten, um zu verhindern, dass Bäume entlang der städtischen Straßen und in verbliebenen Waldstücken gefällt wurden, um Flüsse vor giftigen Einleitungen und schöne Landschaften vor Immobilienhaien und die Stadtbewohner vor Spielcasinos zu bewahren. Ständig waren Briefe und Eingaben geschrieben, Behörden bestürmt, Plakate verteilt, Demonstrationen organisiert worden. Das Vorderzimmer war die Bühne für empörte Ausbrüche (die den Leuten offensichtlich gut taten, fand Jinny) und verwirrte Vorschläge und Streitereien und Neals nervende Lebhaftigkeit gewesen. Und als es nun plötzlich leer stand, musste sie daran denken, wie sie zum ersten Mal dieses Haus betreten hatte, geradewegs aus dem Halbgeschosshaus ihrer Eltern mit den gerafften Portieren an den Fenstern kommend, und all die mit Büchern gefüllten Regale betrachtet hatte, die hölzernen Fensterläden und die schönen Orientteppiche, deren Namen sie immer wieder vergaß, auf den gefirnissten Dielen. Der Canaletto-Druck, den sie für ihr Zimmer im College gekauft hatte, an der einzigen leeren Wand.
Lord Mayor’s Day auf der Themse.
Sie hatte ihn selbst aufgehängt, auch wenn sie ihn inzwischen gar nicht mehr wahrnahm.
Sie mieteten ein Krankenhausbett – sie brauchten es eigentlich noch nicht, aber es war besser, eins zu besorgen, solange es eins gab, denn oft waren sie knapp. Neal dachte einfach an alles. Er hängte schwere Vorhänge auf, ausgemusterter Wohnzimmerschmuck eines Freundes. Sie hatten ein Muster aus Bierhumpen und Stirnschmuckschildern von Brauereipferden, und Jinny fand sie sehr hässlich. Aber sie wusste inzwischen, es kommt eine Zeit, da erfüllen das Hässliche und das Schöne so ziemlich denselben Zweck, da ist alles, was man erblickt, nur ein Haken, um daran die empörten Ausbrüche des eigenen Körpers aufzuhängen, die Bruchstücke des eigenen Geistes.
Sie war zweiundvierzig, und bis vor kurzem hatte sie jünger ausgesehen. Neal war sechzehn Jahre älter als sie. Also hatte sie gedacht, dem natürlichen Lauf der Dinge zufolge werde sie sich einst in der Situation befinden, in der
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