Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)
solche Dinge hinschrieben. Und sie stellte sich weiter vor, wie sie selbst hier oder an einem ähnlichen Ort saß, ganz allein, und auf einen Bus wartete, was ihr sicherlich bevorstand, wenn sie den Plan ausführte, für den sie sich gerade entschieden hatte. Würde auch sie unter dem Zwang stehen, auf öffentlichen Wänden Erklärungen abzugeben?
Sie fühlte sich in diesem Augenblick dem Zustand nahe, in dem sich Menschen befanden, wenn sie bestimmte Dinge hinschreiben mussten – nahe durch ihren Zorn, ihr Gefühl des Verletztseins (vielleicht war es nur ein Gefühl?) und ihre Erregung über das, was sie Neal antat, um es ihm heimzuzahlen. Aber das Leben, in das sie sich begab, bot ihr vielleicht niemanden, über den sie sich ärgern konnte, niemanden, der ihr etwas schuldig war, niemanden, der von dem, was sie tat, in irgendeiner Weise belohnt oder bestraft oder ernsthaft berührt werden konnte. Möglich, dass dann ihre Gefühle für niemanden außer ihr selbst von Bedeutung waren, und trotzdem würden sie in ihrem Innern anschwellen, ihr das Herz und den Atem abdrücken.
Sie war schließlich keine Person, die alle Menschen sofort für sich einnahm. Dennoch war sie auf ihre Art wählerisch.
Vom Bus war immer noch nichts zu sehen, als sie aufstand und nach Hause ging.
Neal war nicht da. Er brachte die Jungen in die Schule zurück, und als er zurückkam, hatte sich schon jemand zu früh für das Meeting eingefunden. Was sie getan hatte, erzählte sie ihm erst, als sie darüber hinweg war und daraus eine spaßige Geschichte machen konnte. Es wurde tatsächlich zu einer Anekdote, die sie in geselliger Runde oft erzählte. Das, was sie an den Wänden gelesen hatte, ließ sie dabei aus oder beschrieb es nur ganz allgemein.
»Wäre dir je der Gedanke gekommen, mir nachzugehen?«, fragte sie Neal.
»Sicher. So mit der Zeit.«
* * *
Der Onkologe gab sich priesterlich. Unter dem weißen Kittel trug er sogar ein schwarzes Stehkragenhemd – eine Uniform, die wirkte, als käme er gerade von einer Zeremonie des Mischens und Dosierens. Seine Haut war jung und glatt – sie sah aus wie Karamellbonbons. Nur auf der Kuppe seines Schädels fand sich spärlicher schwarzer Haarwuchs, ein zartes Sprießen, ganz ähnlich dem Flaum, den Jinny auf dem Kopf trug. Bei ihr war er allerdings graubraun, wie Mäusefell. Anfangs hatte Jinny sich gefragt, ob er vielleicht nicht nur Arzt, sondern auch selbst Patient war. Dann, ob er sich diesen Stil zugelegt hatte, damit die Patienten sich wohler fühlten. Aber wahrscheinlich war es ein Transplantat. Oder einfach nur die Frisur, die ihm gefiel.
Man konnte ihn nicht fragen. Er kam aus Syrien oder Jordanien oder einem Land, wo die Ärzte ihre Würde wahrten. Seine Höflichkeit war frostig.
»Zunächst einmal«, sagte er, »möchte ich nicht, dass Sie einen falschen Eindruck bekommen.«
Sie begab sich aus dem klimatisierten Gebäude in die grelle Glut eines späten Augustnachmittags in Ontario. Manchmal brannte sich die Sonne durch die Schleierwolken, manchmal blieb sie dahinter – auf die Hitze hatte das keinen Einfluss. Die geparkten Autos, das Pflaster, die Backsteine der Gebäude, so kam es Jinny vor, bombardierten sie regelrecht, als wären sie alle gesonderte Begebenheiten, in absurder Reihenfolge aneinander gefügt. Sie wurde derzeit nicht gut mit Veränderungen der Umgebung fertig, sie wollte alles vertraut und gleich bleibend haben. Ebenso erging es ihr mit wechselnden Informationen.
Sie sah, wie der Transporter sich von seinem Platz am Bordstein entfernte und die Straße herauffuhr, um sie abzuholen. Er war hellblau, eine schimmernde, Ekel erregende Farbe. Helleres Blau, wo die Roststellen übermalt worden waren. Seine Aufkleber verkündeten ICH WEISS , ICH FAHRE EINEN SCHROTTHAUFEN , ABER SIE SOLLTEN ERST MAL MEIN HAUS SEHEN und EHRE DEINE MUTTER – DIE ERDE und (der war neueren Datums) BENUTZT PESTIZIDE , ROTTET DAS UNKRAUT AUS , FÖRDERT DEN KREBS .
Neal kam ums Auto, um ihr behilflich zu sein.
»Sie ist im Transporter«, sagte er. Seine Stimme hatte einen ungeduldigen Unterton, der sich als unbestimmte Warnung oder Bitte übertrug. Eine Geschäftigkeit, eine Spannung um ihn, die Jinny verriet, dass es nicht der richtige Zeitpunkt war, um ihm ihre Neuigkeiten mitzuteilen, wenn man sie überhaupt Neuigkeiten nennen konnte. Wenn andere Menschen um Neal waren, auch nur eine andere Person außer Jinny, dann änderte sich sein Verhalten, wurde lebhafter,
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