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Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Titel: Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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nicht.«
    »Doch. Stimmt’s, Jinny? Jinny findet das auch, du hast ein rosiges Gesicht. Rosenrot.«
    Das Mädchen hatte wirklich eine zarte rosafarbene Haut. Jinny war das schon aufgefallen, ebenso wie die nahezu weißen Wimpern und Augenbrauen, das blonde Babyflaum-Haar und der Mund, der seltsam nackt aussah, nicht einfach wie ein Mund ohne Lippenstift. Wie frisch aus dem Ei geschlüpft sah sie aus, als fehlte ihr noch eine Hautschicht und der gröbere Haarwuchs Erwachsener. Sie war bestimmt anfällig für Ausschläge und Entzündungen, bekam leicht Schrammen und blaue Flecke und neigte zu wunden Stellen am Mund und zu Gerstenkörnern zwischen den weißen Wimpern. Trotzdem sah sie nicht schwach aus. Sie hatte breite Schultern und war mager, aber kräftig gebaut. Sie sah auch nicht dumm aus, trotz des naiv-direkten Gesichtsausdrucks wie bei einem Kalb oder einem Reh. Offenbar war bei ihr alles an der Oberfläche, ihre Aufmerksamkeit und ihre ganze Persönlichkeit kamen schnurstracks auf einen zu, mit einer unschuldigen und – für Jinny – unangenehmen Kraft.
    Sie fuhren die lange Steigung zum Krankenhaus hinauf – dort war Jinny operiert worden und hatte ihre erste Chemotherapie über sich ergehen lassen. Auf der anderen Straßenseite, gleich gegenüber vom Krankenhauskomplex, lag ein Friedhof. Die Straße war eine der Hauptstraßen, und immer, wenn sie hier entlangkamen – früher, als sie noch in diese Stadt fuhren, nur um einzukaufen oder ausnahmsweise mal ins Kino zu gehen –, sagte Jinny etwas wie »Welch eine deprimierende Aussicht« oder »Man kann es mit dem Praktischen auch übertreiben«.
    Jetzt schwieg sie. Der Friedhof störte sie nicht mehr. Ihr war klar geworden, dass er nichts zu bedeuten hatte.
    Neal musste das auch klar geworden sein. Er sagte in den Rückspiegel: »Was meinst du, wie viel tote Menschen sind auf dem Friedhof?«
    Helen sagte erst nichts. Dann – sehr mürrisch: »Weiß nicht.«
    »Na alle – alle da sind tot.«
    »Damit hat er mich auch reingelegt«, sagte Jinny. »Das ist ein Witz aus der vierten Klasse.«
    Helen antwortete nicht. Vielleicht hatte sie es nicht bis in die vierte Klasse geschafft.
    Sie fuhren zum Haupteingang des Krankenhauses, dann auf Helens Anweisung durchs Gelände zum hinteren Teil. Leute in Krankenhausbademänteln, manche mit ihrem Infusionsständer im Schlepptau, waren herausgekommen, um zu rauchen.
    »Siehst du die Bank da«, sagte Jinny. »Ach, jetzt sind wir schon vorbei. Jedenfalls ist ein Schild dran – BITTE NICHT RAUCHEN . Aber die steht da, damit die Leute sich hinsetzen können, wenn sie aus dem Krankenhaus spazieren. Und warum spazieren sie hinaus? Um zu rauchen. Also dürfen sie sich dabei nicht hinsetzen? Ich versteh das nicht.«
    »Helens Schwester arbeitet in der Wäscherei«, sagte Neal. »Wie heißt sie, Helen? Wie heißt deine Schwester?«
    »Lois«, sagte Helen. »Halten Sie hier. Ja, hier.«
    Sie befanden sich auf einem Parkplatz hinter einem Seitenflügel des Krankenhauses. Das Erdgeschoss hatte keine Türen, nur ein Lieferantentor, das geschlossen war. In den drei Stockwerken darüber führten Türen zu einer Feuertreppe.
    Helen stieg aus.
    »Weißt du, wie du reinkommst?«, fragte Neal.
    »Klar.«
    Die Feuertreppe endete etwa anderthalb Meter über dem Boden, aber sie packte das Geländer und schaffte es innerhalb von Sekunden, sich emporzuschwingen, stützte sich vielleicht mit einem Fuß in einem Mauerspalt ab. Jinny vermochte nicht zu sagen, wie es ihr gelang. Neal lachte.
    »Los, Mädel, zeig’s ihnen«, sagte er.
    »Gibt es keinen anderen Weg?«, fragte Jinny.
    Helen war zum dritten Stock hochgerannt und verschwunden.
    »Wenn’s einen gibt, wird sie ihn nicht benutzen«, sagte Neal.
    »Sie hat Mumm in den Knochen«, sagte Jinny angestrengt.
    »Sonst wäre sie nie ausgebrochen«, sagte er. »Dafür hat sie jede Menge Mumm gebraucht.«
    Jinny trug einen Strohhut mit breiter Krempe. Sie nahm ihn ab und fächelte sich damit zu.
    Neal sagte: »Tut mir leid. Gibt weit und breit keinen schattigen Parkplatz. Sie ist bestimmt gleich zurück.«
    »Sehe ich zu scheußlich aus?«, fragte Jinny. Er war solche Fragen von ihr ge wohnt.
    »Du siehst gut aus. Außerdem ist hier niemand.«
    »Der Arzt vorhin, das war ein anderer als sonst. Ich glaube, der heute war wichtiger. Das Komische an ihm war, sein Haarwuchs sah ungefähr so aus wie meiner. Vielleicht macht er das, damit die Patienten sich nicht genieren.«
    Sie wollte

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