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Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Titel: Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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eigentlich keine neue Erfahrung. Sie hatte etwas Ähnliches für Mrs Willets empfunden – auch eine zartgliedrige, flatterhafte Person, die Pflege und Betreuung brauchte. Allerdings war sie nicht darauf gefasst gewesen, dass Ken Boudreau sich in dieser Hinsicht als noch bedürftiger erwies, und dann waren da die Unterschiede, mit denen man bei einem Mann rechnen musste, aber in ihm war bestimmt nichts, womit sie nicht fertig werden konnte.
    Nach Mrs Willets war ihr Herz verdorrt, und sie hatte schon für möglich gehalten, dass es immer so bleiben könnte. Und jetzt so warme Unruhe, so geschäftige Liebe.
     
    Mr McCauley starb etwa zwei Jahre nach Johannas Weggang. Seine Beerdigung war die letzte, die in der anglikanischen Kirche abgehalten wurde. Es fand sich eine ansehnliche Trauergemeinde ein. Sabitha – die mit der Kusine ihrer Mutter, der Frau aus Toronto, kam – war jetzt zurückhaltend und hübsch und bemerkenswert, staunenswert schlank. Sie trug einen eleganten schwarzen Hut und sprach mit niemandem, es sei denn, sie wurde von anderen angesprochen. Und auch dann konnte sie sich offenbar nicht an sie erinnern.
    Die Todesanzeige in der Zeitung vermerkte als Hinterbliebene von Mr McCauley dessen Enkeltochter Sabitha Boudreau und dessen Schwiegersohn Ken Boudreau mit Ehefrau Johanna und Söhnchen Omar, wohnhaft in Salmon Arm, B.C.
    Ediths Mutter las das vor – Edith selbst warf nie einen Blick in die Lokalzeitung. Natürlich war die Heirat für beide keine Neuigkeit – auch nicht für Ediths Vater, der um die Ecke im Wohnzimmer vor dem Fernseher saß. Die Heirat hatte sich herumgesprochen. Die einzige Neuigkeit war Omar.
    »Die und ein Baby!«, sagte Ediths Mutter.
    Edith machte am Küchentisch ihre Hausaufgaben und übersetzte Latein.
Tu ne quaesieris, scire nefas, quem mihi, quem tibi …
    In der Kirche hatte sie sorgfältig darauf geachtet, Sabitha nicht in Gegenwart anderer anzusprechen.
    Sie hatte eigentlich keine Angst mehr davor, erwischt zu werden – obwohl sie immer noch nicht ganz verstand, warum Sabitha und sie nicht erwischt worden waren. Und in gewisser Weise kam es ihr nur richtig vor, dass die dummen Streiche ihres früheren Ichs nicht mit ihrem jetzigen Ich in Verbindung gebracht wurden – oder gar mit ihrem wahren Ich, das bestimmt zu Tage treten würde, sobald sie diese Stadt hinter sich gelassen hatte und mit ihr alle Menschen, die meinten, sie zu kennen. Es war dieser ganze Lauf der Dinge, der sie verstörte – so märchenhaft, dabei gleichzeitig banal. Auch beleidigend, wie ein schlechter Scherz oder eine plumpe Warnung, die sie verunsichern sollte. Denn wo stand auf der Liste der Dinge, die sie in ihrem Leben erreichen wollte, irgendetwas davon, für das Erdendasein eines Wesens namens Omar verantwortlich zu sein?
    Sie ging nicht auf ihre Mutter ein und schrieb: »Du darfst nicht fragen, es ist uns verboten, zu wissen …«
    Sie hielt inne und kaute auf ihrem Bleistift herum, fuhr dann mit einem Schauder der Befriedigung fort: »… was das Schicksal bereithält, sei es für mich oder für dich …«

Eine schwimmende Brücke
    Einmal hatte sie ihn verlassen. Der unmittelbare Anlass war relativ unbedeutend gewesen. Er hatte sich zwei jugendlichen Straftätern angeschlossen (zwei Jujus, wie er sie nannte) und mit ihnen einen Ingwerkuchen aufgefuttert, den sie gerade gebacken hatte und am selben Abend nach einem Meeting auftischen wollte. Unbemerkt – zumindest von Neal und den Jujus – hatte sie das Haus verlassen und war zu dem Wartehäuschen an der Hauptstraße gelaufen, wo der Bus in die City zweimal am Tag hielt. Sie hatte sich noch nie darin aufgehalten und gut zwei Stunden Wartezeit vor sich. Also saß sie da und las alles, was an die hölzernen Wände geschrieben oder in sie eingeritzt worden war. Diverse Monogramme liebten sich für immer. Laurie G. lutschte Schwänze. Dunk Cultis war schwul. Ebenso Mr Garner (Mathe).
    Leck mich H. W. Dope an die Macht. Skaten oder Sterben. Gott hasst Schmutz. Kevin S. hat verschissen. Amanda W. ist ganz süß und ich wünsche mir, sie kommt bald aus dem Knast, denn ith sehne mich so nach ihr. Ich will V.P. nageln. Hier müssen Frauen sitzen und das Dreckzeug lesen, was ihr hinschreibt.
    Beim Betrachten dieses Hagelschauers menschlicher Botschaften – und besonders angesichts des von Herzen kommenden, sehr säuberlich geschriebenen Satzes über Amanda W. – überlegte Jinny, ob die Verfasser wohl allein waren, wenn sie

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