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Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Titel: Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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eigentlich weiterreden und ihm erzählen, was der Arzt gesagt hatte, aber er sagte: »Ihre Schwester ist nicht ganz so aufgeweckt wie sie. Helen passt auf sie auf und scheucht sie rum. Das mit den Schuhen – das ist typisch. Kann sie sich ihre Schuhe nicht selber kaufen? Sie hat nicht mal eine eigene Bude – sie wohnt immer noch bei den Leuten, die sie in Pflege genommen haben, irgendwo draußen auf dem Land.«
    Jinny erzählte nicht weiter. Das Fächeln beanspruchte den größten Teil ihrer Energie. Er beobachtete das Gebäude.
    »Ich hoffe zu Gott, sie kriegen sie nicht am Schlafittchen, weil sie auf dem falschen Weg reingekommen ist«, sagte er. »Gegen die Vorschrift. Sie ist eben nicht der Typ, sich an Vorschriften zu halten.«
    Nach einigen Minuten stieß er einen Pfiff aus.
    »Da kommt sie schon. Da kommt sie! Ist jetzt auf der Zielgeraden. Wird-sie-wird-sie-wird-sie so schlau sein und anhalten, bevor sie springt? Nach unten schauen, bevor sie springt? Wird-sie-wird-sie – nein. Nein. M-m.«
    Helen hielt keine Schuhe in den Händen. Sie warf sich in den Transporter und knallte die Tür zu und sagte: »Blöde Idioten. Ich komm da hoch, und so ein Arschloch hält mich auf. Wo’s Ihr Namensschild? Sie brauchen ein Namensschild. Sie können hier nicht ohne Namensschild rein. Ich hab Sie von der Feuertreppe reinkommen sehen, das dürfen Sie nicht. Ja, ja, ich muss nur kurz zu meiner Schwester. Sie können jetzt nicht zu ihr, sie hat gerade keine Pause. Das weiß ich, deshalb komm ich ja von der Feuertreppe rein, ich muss nur was abholen. Ich will nicht mit ihr reden, und ich werd ihr nicht die Zeit stehlen, ich muss nur was abholen. Das geht nicht. Doch, das geht. Nein, das geht nicht. Und dann hab ich gerufen
Lois, Lois.
Und alle Maschinen laufen, da drin sind zweihundert Grad, allen läuft der Schweiß übers Gesicht, Zeug fährt vorbei und
Lois, Lois.
Ich weiß nicht, wo sie ist, kann sie mich hören oder nicht. Aber sie kommt angerast, und sowie sie mich sieht – au Scheiße. Au Scheiße, sagt sie, ich hab’s vergessen.
Sie hat vergessen, meine Schuhe mitzubringen.
Ich hab sie gestern Abend angerufen und dran erinnert, aber nein, au Scheiße, sie hat’s
vergessen.
Ich hätt sie verprügeln können. Jetzt verschwinden Sie, sagt er. Die Treppe runter und raus. Aber nicht die Feuertreppe, das ist verboten. Da scheiß ich drauf.«
    Neal lachte und lachte und schüttelte den Kopf.
    »Also sie hat tatsächlich deine Schuhe liegen lassen?«
    »Draußen bei June und Matt.«
    »Was für eine Tragödie.«
    Jinny sagte: »Können wir denn jetzt losfahren und ein bisschen Luft reinlassen? Ich habe den Eindruck, das Fächeln hilft nicht allzu viel.«
    »Gemacht«, sagte Neal. Er setzte zurück und wendete, und ein weiteres Mal kamen sie an der vertrauten Fassade des Krankenhauses vorbei, mit denselben oder anderen Rauchern, die in ihrer tristen Krankenhauskleidung mit ihren Infusionsständern umherwandelten. »Helen braucht uns nur zu sagen, wie wir fahren müssen.«
    Er rief nach hinten: »Helen?«
    »Was?«
    »Wo müssen wir jetzt lang zu diesen Leuten?«
    »Zu welchen Leuten?«
    »Wo deine Schwester wohnt. Wo deine Schuhe sind. Sag uns, wie wir da hinkommen.«
    »Wir fahren nicht hin, also sag ich’s auch nicht.«
    Neal fuhr den Weg zurück, den sie gekommen waren.
    »Ich fahre hier nur lang, damit du dich orientieren kannst. Ist es für dich einfacher, wenn ich zur Fernstraße rausfahre? Oder in die Stadtmitte? Von wo aus soll’s losgehen?«
    »Von nirgendwo. Wir fahren nicht hin.«
    »Das ist doch gar nicht so weit? Warum fahren wir nicht hin?«
    »Sie haben mir schon einen Gefallen getan, und das reicht.« Helen setzte sich so weit vor, wie sie konnte, und streckte den Kopf zwischen Neals und Jinnys Sitz. »Sie haben mich zum Krankenhaus gefahren, reicht das nicht? Sie müssen nicht meinetwegen überall hinfahren.«
    Neal fuhr langsamer, bog in eine Seitenstraße.
    »Das ist doch albern«, sagte er. »Du fährst zwanzig Meilen weit weg und kommst vielleicht eine ganze Weile lang nicht mehr da hin. Vielleicht wirst du die Schuhe brauchen.«
    Keine Antwort. Er versuchte es wieder.
    »Oder weißt du den Weg nicht? Weißt du den Weg von hier aus nicht?«
    »Ich weiß ihn, aber ich sag ihn nicht.«
    »Dann müssen wir eben durch die Gegend fahren, kreuz und quer durch die Gegend fahren, bis du bereit bist, ihn uns zu sagen.«
    »Ich bin nicht bereit. Also werd ich ihn auch nicht sagen.«
    »Wir können

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