Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)
er jetzt war, und sie hatte sich manchmal Sorgen gemacht, wie sie damit fertig werden sollte. Eines Nachts, als sie im Bett beim Einschlafen seine Hand hielt, seine warme und lebendige Hand, hatte sie gedacht, sie werde, wenn er gestorben sei, wenigstens einmal seine Hand halten oder berühren. Und sie werde diese Tatsache nicht glauben können. Die Tatsache, dass er tot und kraftlos war. Ganz egal, wie lange dieser Zustand vorauszusehen gewesen sei, sie werde ihn nicht glauben können. Sie werde nicht glauben können, dass er diesen Augenblick, dass er sie, Jinny, tief im Innersten nicht doch wahrnahm. Der Gedanke, er werde dazu nicht mehr in der Lage sein, löste bei ihr so etwas wie emotionale Gleichgewichtsstörungen aus, ein Gefühl, ins Bodenlose zu fallen.
Und gleichzeitig eine gewisse Erregung. Die Erregung, die man spürt, wenn ein im Sauseschritt nahendes Unheil verspricht, einem alle Verantwortung für das eigene Leben abzunehmen. Gleich danach schämt man sich dafür und ringt um Fassung und zwingt sich zu Ruhe.
»Wo gehst du hin?«, hatte er gefragt, als sie ihre Hand wegzog.
»Nirgendwohin. Ich dreh mich nur um.«
Sie wusste nicht, ob Neal auch so etwas empfand, jetzt, wo es sie getroffen hatte. Einmal fragte sie ihn, ob er sich schon an den Gedanken gewöhnt hatte. Er schüttelte den Kopf.
Sie sagte: »Ich auch nicht.«
Dann sagte sie: »Lass bloß nicht die Trauerhelfer rein. Vielleicht sind sie schon in Lauerstellung. Für einen Präventivschlag.«
»Quäl mich nicht«, sagte er mit seltenem Zorn.
»Tut mir leid.«
»Du musst nicht immer alles von der heiteren Seite sehen.«
»Ich weiß«, sagte sie. Aber tatsächlich, da so vieles vor sich ging und die täglichen Ereignisse so viel von ihrer Aufmerksamkeit beanspruchten, fand sie es schwer, die Dinge von irgendeiner Seite zu sehen.
»Das ist Helen«, sagte Neal. »Sie wird von jetzt an auf uns aufpassen. Und sie duldet keine Dummheiten.«
»Na prima«, sagte Jinny. Sie streckte die Hand aus, sobald sie sich hingesetzt hatte. Aber vielleicht sah das Mädchen die Hand nicht, ziemlich weit unten zwischen den beiden Vordersitzen.
Oder sie wusste nicht, was sie tun sollte. Neal hatte gesagt, dass sie aus unglaublichen Verhältnissen kam, aus einer absolut barbarischen Familie. Da waren Dinge vorgegangen, wie man sie in der heutigen Zeit gar nicht mehr für möglich hielt. Eine abgelegene Farm, eine tote Mutter, eine schwachsinnige Tochter und ein tyrannischer, geistesgestörter alter Vater, der mit der eigenen Tochter zwei Kinder gezeugt hatte, zwei Mädchen. Helen, die Altere, war mit vierzehn von zu Hause weggelaufen, nachdem sie den alten Mann zusammengeschlagen hatte. Sie fand bei einem Nachbarn Zuflucht, der die Polizei rief, und die Polizei war gekommen und hatte die jüngere Schwester abgeholt und beide Kinder der Fürsorge übergeben. Der alte Mann und seine Tochter – also ihr Vater und ihre Mutter – wurden in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen. Pflegeeltern nahmen sich der Geschwister an, die beide geistig und körperlich normal waren. Sie wurden in die Schule geschickt und hatten es dort sehr schwer, denn sie mussten in der ersten Klasse anfangen. Aber beide lernten genug, um Arbeitsstellen zu finden.
Als Neal den Transporter angelassen hatte, beschloss das Mädchen, etwas zu sagen.
»Sie haben sich aber einen richtig heißen Tag für die Fahrt ausgesucht«, sagte sie. Es war so ein Satz, wie sie ihn vielleicht von Leuten gehört hatte, die ein Gespräch beginnen wollten. Sie sprach im harten, ausdruckslosen Tonfall der Feindseligkeit und des Misstrauens, aber auch das, wusste Jinny inzwischen, durfte man nicht persönlich nehmen. In diesem Teil der Welt hörten sich manche Leute – besonders solche vom Lande – eben so an.
»Wenn dir heiß ist, kannst du die Klimaanlage anstellen«, sagte Neal. »Unsere ist von der altmodischen Sorte – einfach alle Fenster runterkurbeln.«
An der nächsten Ecke bog Neal ab, was Jinny nicht erwartet hatte.
»Wir müssen nochmal ins Krankenhaus fahren«, sagte Neal. »Keine Panik. Helens Schwester arbeitet da und hat etwas, was Helen abholen will. Stimmt doch, Helen?«
Helen sagte: »Ja. Meine guten Schuhe.«
»Deine guten Schuhe.« Neal sah in den Rückspiegel. »Rosenrots gute Schuhe.«
»Ich heiße nicht Rosenrot«, sagte Helen. Offenkundig sagte sie das nicht zum ersten Mal.
»Ich sage das bloß zu dir, weil du so ein rosiges Gesicht hast«, sagte Neal.
»Hab ich
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