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Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Titel: Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Morgenrot und Feuerlilie und Grünes Händchen und Unschuld vom Lande und Küchenfee. Manche Namen waren so beliebt, dass sie nummeriert werden mussten – Schneewittchen 1 , Schneewittchen 2 , Schneewittchen 3 .
    Liebe Morgenrot, schrieben dann Alfrida oder Pferd Henry, Hautausschlag ist eine schreckliche Plage, besonders, wenn es so heiß ist wie jetzt, und ich hoffe, das Backpulver nutzt ein wenig. Hausmittel verdienen gewiss Respekt, aber es kann nie schaden, den Rat eines Arztes einzuholen. Ich höre mit Freude, dass Ihr Männe wieder auf den Beinen ist. Sie alle beide nicht auf dem Damm, das war bestimmt nicht lustig …
    In allen Kleinstädten dieses Teils von Ontario veranstalteten die Hausfrauen, die dem Flora-Simpson-Club angehörten, in jedem Sommer ein Picknick. Flora Simpson schickte immer ein Grußwort, erklärte aber, es gebe zu viele Veranstaltungen, als dass sie zu allen erscheinen könne, und sie mochte niemanden bevorzugen. Alfrida erzählte, sie hatten darüber gesprochen, Pferd Henry mit Perücke und Kissenbusen hinzuschicken oder auch sie selbst, aufgedonnert wie die Hexe von Babylon (nicht einmal sie wagte es am Tisch meiner Eltern, die Bibel korrekt zu zitieren und »Hure« zu sagen) mit einem Glimmstängel im knallroten Mund. Aber die Zeitung würde uns umbringen, sagte sie. Und außerdem wäre es zu gemein.
    Sie nannte ihre Zigaretten immer Glimmstängel. Als ich fünfzehn oder sechzehn war, beugte sie sich über den Tisch und fragte mich: »Möchtest du auch mal einen Glimmstängel?« Wir waren mit dem Essen fertig, und meine beiden jüngeren Geschwister saßen nicht mehr am Tisch. Mein Vater schüttelte den Kopf. Er hatte angefangen, Selbstgedrehte zu rauchen.
    Ich sagte, gern, und ließ mir von Alfrida Feuer geben und rauchte zum ersten Mal vor meinen Eltern.
    Sie taten so, als sei es ein Riesenwitz.
    »Nun sieh dir bloß deine Tochter an«, sagte meine Mutter zu meinem Vater. Sie verdrehte die Augen und schlug die Hände vor die Brust und sprach in gekünsteltem, leidenden Tonfall. »Ich werde gleich ohnmächtig.«
    »Muss die Pferdepeitsche holen«, sagte mein Vater und stand halb von seinem Stuhl auf.
    Dieser Augenblick war verblüffend, so, als hätte Alfrida uns in neue Menschen verwandelt. Normalerweise sagte meine Mutter, dass es ihr nicht gefiel, eine Frau rauchen zu sehen. Sie sagte nicht, es sei unanständig oder undamenhaft – nur, dass es ihr nicht gefiel. Und wenn sie in einem bestimmten Tonfall sagte, dass ihr etwas nicht gefiel, dann war das kein Eingeständnis irrationaler Abneigung, sondern es schien einer eigenen Quelle der Weisheit zu entspringen, die unangreifbar und nahezu heilig war. Immer wenn sie diesen Ton anschlug, mit seinem begleitenden Ausdruck, inneren Stimmen zu lauschen, hasste ich sie besonders.
    Mein Vater seinerseits hatte mich in ebendiesem Zimmer zwar nicht mit der Pferdepeitsche, aber mit seinem Gürtel verprügelt, weil ich die Regeln meiner Mutter gebrochen und ihre Gefühle verletzt und freche Antworten gegeben hatte. Jetzt schien es, als könnten solche Prügel nur in einem anderen Universum verabreicht werden.
    Meine Eltern waren von Alfrida – und auch von mir – in die Enge getrieben worden, aber sie hatten so locker und spielerisch reagiert, dass es mir vorkam, als seien wir drei – meine Mutter und mein Vater und ich – auf eine neue Ebene von Entspanntheit und Gelassenheit gehoben worden. In diesem Augenblick konnte ich bei ihnen – besonders bei meiner Mutter – die Fähigkeit zu einer gewissen Heiterkeit erkennen, die sonst kaum je zu sehen war.
    Alles dank Alfrida.
    Alfrida wurde immer als Karrierefrau bezeichnet. Das erweckte den Eindruck, sie sei jünger als meine Eltern, obwohl sie bekanntermaßen etwa im selben Alter war. Es hieß auch, sie sei ein Stadtmensch. Und mit der Stadt war dann die Stadt gemeint, in der Alfrida lebte und arbeitete. Aber es war auch noch etwas anderes gemeint – nicht nur eine bestimmte Anordnung von Häusern und Bürgersteigen und Straßenbahnlinien oder auch eine Ansammlung einzelner Menschen. Etwas Abstrakteres, was endlos wiederholbar war, etwas wie ein Bienenstock, hektisch, aber organisiert, nicht direkt nutzlos oder unsinnig, aber beunruhigend und manchmal gefährlich. Die Menschen begaben sich an einen solchen Ort nur, wenn sie unbedingt mussten, und waren froh, wenn sie ihn wieder hinter sich lassen konnten. Manche jedoch wurden davon angezogen – wie Alfrida offenbar vor langer

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