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Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Titel: Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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das Thema fallen zu lassen, ließ sie ihr dröhnendes Gelächter erschallen und erzählte Geschichten über den Premierminister und den amerikanischen Präsidenten und John L. Lewis und den Bürgermeister von Montreal – Geschichten, in denen alle schlecht wegkamen. Sie erzählte auch Geschichten über die königliche Familie, aber da unterschied sie zwischen den Guten wie dem König und der Königin und der schönen Herzogin von Kent, und den Abscheulichen wie den Windsors und dem alten König Eddy, der – behauptete sie – an einer gewissen Krankheit litt und am Hals seiner Frau bei dem Versuch, sie zu erwürgen, Male hinterlassen hatte, weshalb sie immer eine Perlenkette tragen musste. Diese Unterscheidung traf sich recht gut mit der, die meine Mutter vornahm, auch wenn sie nur selten darüber redete, also hatte sie nichts einzuwenden – obwohl sie bei der Anspielung auf Syphilis zusammenzuckte.
    Ich lächelte wissend dazu, mit verwegener Gelassenheit.
    Alfrida gab den Russen komische Namen. Mikojanski. Stalinski. Sie glaubte, dass sie allen anderen Sand in die Augen streuten und dass die Vereinten Nationen ein Witz waren und nie funktionieren würden und dass Japan wieder erstarken würde und dass Amerika den Japanern den Rest hätte geben sollen, solange dazu Gelegenheit gewesen war. Sie traute auch Quebec nicht. Oder dem Papst. Mit Senator McCarthy hatte sie ein Problem – sie wäre gerne auf seiner Seite gewesen, aber sein katholischer Glaube war für sie ein Hemmklotz. Den Papst nannte sie den Oberapostel. Sie genoss den Gedanken an all die Gauner und Schurken auf dieser Welt.
    Manchmal schien es, als spiele sie Theater, ziehe eine Schau ab, vielleicht um meinen Vater zu necken. Um ihn zu piesacken, wie er selbst gesagt hätte, ihn auf die Palme zu bringen. Aber nicht, weil sie ihn nicht mochte oder auch nur in Verlegenheit bringen wollte. Ganz im Gegenteil. Vielleicht triezte sie ihn, wie Mädchen Jungen in der Schule triezen, wenn ein Streit für beide Seiten ein besonderes Vergnügen ist und Beleidigungen als Schmeicheleien aufgefasst werden. Mein Vater stritt sich mit ihr immer in sanftem, gleichmäßigem Ton, und doch war klar, dass er die Absicht hatte, sie aufzustacheln. Manchmal machte er eine Kehrtwende und gab ihr Recht – durch ihre Arbeit bei der Zeitung hatte sie eben Informationsquellen, die ihm nicht zugänglich waren. Du hast mir den Kopf zurechtgerückt, sagte er dann, und eigentlich müsste ich dir dankbar sein. Und sie antwortete: Komm mir nicht mit solchem Quatsch.
    »Ihr seid mir zwei«, sagte meine Mutter mit gespielter Verzweiflung und vielleicht aus echter Erschöpfung, und Alfrida befahl ihr, sich aufs Ohr zu legen, sie verdiene es nach diesem bonfortionösen Essen, sie selber und ich würden den Abwasch übernehmen. Meine Mutter litt manchmal an einem Zittern im rechten Arm, von dem ihr die Finger steif wurden und das sie auf Übermüdung zurückführte.
    Bei unserer Arbeit in der Küche erzählte Alfrida mir von Prominenten – von Schauspielern oder sogar Filmsternchen, die in der Stadt, in der sie lebte, auf der Bühne gastiert hatten. Mit leiser Stimme, doch immer wieder unterbrochen von respektlosem Gelächter, berichtete sie von deren Eskapaden und kolportierte Gerüchte über private Skandale, die nie in die Illustrierten gelangt waren. Sie erwähnte Männer, die andersrum waren, künstliche Busen und Dreiecksverhältnisse – alles Dinge, von denen ich andeutungsweise schon gelesen hatte, aber es machte mich schwindlig, jetzt im wirklichen Leben davon zu hören, und sei es nur aus dritter oder vierter Hand.
    Alfridas Zähne erregten immer meine Aufmerksamkeit, so dass ich sogar bei diesen vertraulichen Schilderungen manchmal gar nicht mitbekam, was gesagt wurde. Die Zähne, die ihr verblieben waren, vorn im Mund, hatten jeder eine etwas andere Farbe, keine zwei glichen sich. Manche mit relativ intaktem Zahnschmelz tendierten zu dunklen Elfenbeintönen, andere waren opalisierend, mit fliederfarbenen Schattierungen, und blitzten mit silbernen Rändern auf wie Fische, da und dort glänzte auch Gold. Die Zähne der meisten Leute boten zu jener Zeit selten einen so gesunden, schönen Anblick wie heute, es sei denn, sie waren falsch. Aber Alfridas Zähne waren erstaunlich durch ihre Verschiedenheit, jeder deutlich vom anderen getrennt und ungewöhnlich groß. Wenn Alfrida eine höhnische Bemerkung austeilte, die besonders, bewusst haarsträubend war, dann schienen

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