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Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Titel: Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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von der Förmlichkeit des Esszimmers, den zusätzlichen Tellerchen und den Kuchengabeln, wo es doch sonst ihre Gewohnheit war, sich ein Stück Kuchen auf den Essteller zu laden, den sie eben mit einer Brotkruste sauber gewischt hatten. (Es wäre jedoch ein Vergehen gewesen, den Tisch nicht so korrekt zu decken. In ihren eigenen Häusern muteten sie bei solchen Gelegenheiten ihren Gästen die nämliche Tortur zu.) Vielleicht lag es auch nur daran, dass für sie essen und reden zweierlei waren, entweder man aß oder man redete.
    Wenn Alfrida kam, war das ganz etwas anderes. Zwar schmückten wie sonst die gute Decke und das gute Geschirr den Tisch. Auch gab meine Mutter sich große Mühe mit dem Essen und war ängstlich, ob es ihr gelingen würde – wahrscheinlich war sie vom üblichen Pute-mit-Füllung-mit-Kartoffelbrei-Menü abgegangen und hatte so etwas wie Hühnersalat zubereitet, umgeben von Hügeln aus geformtem Reis mit klein geschnittenen Paprikaschoten, und dem folgte dann eine Nachspeise, an die Gelatine und Eischnee und Schlagsahne gehörten und die nervenzermürbend lange brauchte, bis sie steif wurde, weil wir keinen Kühlschrank hatten und sie zum Abkühlen auf den Kellerfußboden stellen mussten. Aber die Befangenheit, das Leichentuch über dem Tisch, war völlig verschwunden. Alfrida willigte nicht nur in einen Nachschlag ein, sie bat sogar darum. Und sie tat das nahezu geistesabwesend, so, wie sie auch ihre Komplimente hinwarf, als sei das Essen, das Verzehren der Speisen, etwas Angenehmes, aber Zweitrangiges, und als sei sie eigentlich da, um zu reden und andere zum Reden zu bringen, als könne man über alles – fast alles – reden.
    Sie kam immer im Sommer zu Besuch, und meistens trug sie eine Art gestreiftes, seidiges Sonnenkleid mit einem Oberteil, das den Rücken frei ließ. Ihr Rücken war nicht hübsch, da mit kleinen Leberflecken übersät, ihre Schultern waren knochig, und ihre Brust war nahezu flach. Mein Vater machte immer Bemerkungen darüber, wie viel sie essen und dabei dünn bleiben konnte. Oder er verkehrte es ins Gegenteil und flachste, sie sei so mäkelig wie eh und je, habe aber trotzdem ordentlich Speck angesetzt. (Es galt in unserer Familie nicht als unziemlich, sich über Beleibtheit oder Magerkeit oder Blässe oder Röte oder Kahlköpfigkeit auszulassen.)
    Ihr dunkles Haar war zu Rollen über ihrem Gesicht und an den Seiten frisiert, im Stil der Zeit. Sie hatte einen bräunlichen Teint, durchzogen von feinen Fältchen, ihr Mund war breit, mit ziemlich dicker, fast herabhängender Unterlippe, und mit einem kräftigen Lippenstift angemalt, der Schmierflecke auf der Teetasse und dem Wasserglas hinterließ. Wenn ihr Mund weit geöffnet war – wie nahezu immer, wenn sie redete oder lachte –, sah man, dass ihr einige Backenzähne fehlten. Niemand konnte behaupten, dass sie eine Schönheit war – jede Frau über fünfundzwanzig war in meinen Augen sowieso jenseits der Möglichkeit, eine Schönheit zu sein, hatte das Anrecht darauf verloren und vielleicht sogar das Verlangen danach –, aber sie war temperamentvoll und fesch. Mein Vater sagte nachdenklich, sie habe Schmiss.
    Alfrida redete mit meinem Vater über Dinge, die in der Welt passierten, über Politik. Mein Vater las die Zeitung, hörte Radio und hatte eigene Meinungen zu diesen Dingen, fand aber selten Gelegenheit, darüber zu reden. Die Ehemänner der Tanten hatten auch eigene Meinungen, doch die waren kurz und gleich bleibend und beinhalteten ein immer währendes Misstrauen gegen alle Personen des öffentlichen Lebens und besonders gegen alle Ausländer, so dass ihnen meistens nichts weiter zu entlocken war als ein abfälliger Kehllaut. Meine Großmutter war schwerhörig – niemand vermochte zu sagen, wie viel sie über irgendetwas wusste oder gar, was sie darüber dachte, und die Tanten selbst machten auf mich den Eindruck, recht stolz darauf zu sein, was sie alles nicht zu wissen oder zu beachten brauchten. Meine Mutter war Lehrerin gewesen, und sie hätte auf einer Landkarte ohne weiteres alle Länder Europas aufzeigen können, aber sie sah alles durch ihren eigenen Nebelschleier, groß im Vordergrund das Britische Empire und die königliche Familie, alles andere stark verkleinert, zusammengeworfen zu einem Trödelhaufen, den sie leicht außer Acht lassen konnte.
    Alfridas Ansichten waren eigentlich gar nicht so weit von denen der Onkels entfernt. Oder so schien es wenigstens. Aber statt aufzustöhnen und

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