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Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Titel: Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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hin.
    »Was hab ich also gemacht? Ich hab gehupt, aber es hat sich immer noch nicht gerührt. Ich hatte keine Lust, auszusteigen und es zu verjagen. Es hatte Angst, aber es war immerhin ein Stachelschwein und konnte mir ganz schön wehtun. Also bin ich einfach stehen geblieben. Ich hatte Zeit. Als ich das Licht wieder angemacht hab, war’s verschwunden.«
    Jetzt reichten die Pflanzen wirklich dicht heran und streiften die Tür, aber sie konnte nicht mehr sehen, ob es Blumen waren.
    »Ich werd Ihnen was zeigen«, sagte er. »Ich werd Ihnen was zeigen, was Sie bestimmt noch nie gesehen haben.«
    Hätte dies in ihrem alten, normalen Leben stattgefunden, vielleicht hätte sie es dann jetzt langsam mit der Angst bekommen. Allerdings wäre sie in ihrem alten, normalen Leben gar nicht erst hierher geraten.
    »Du wirst mir ein Stachelschwein zeigen«, sagte sie.
    »Nein. Das nicht. Sondern was, das noch seltener ist als Stachelschweine. Jedenfalls soweit ich weiß.«
    Ungefähr eine halbe Meile weiter machte er die Scheinwerfer aus.
    »Sehen Sie die Sterne?«, fragte er. »Hab Ihnen ja gesagt. Sterne.«
    Er hielt. Überall herrschte anfangs tiefe Stille. Dann wurde die Stille an den Rändern angenagt, von einer Art Summen, das von fernem Verkehr herrühren konnte, außerdem von leisen Geräuschen, die vorbei waren, bevor man sie richtig gehört hatte, vielleicht von nachtaktiven Nagetieren oder Vögeln oder Fledermäusen.
    »Kommen Sie mal im Frühling her«, sagte er. »Sie würden nur lauter Frösche hören. Sie würden denken, Sie werden gleich taub von den Fröschen.«
    Er öffnete die Tür auf seiner Seite.
    »Los. Steigen Sie aus und kommen Sie ein Stück mit.«
    Sie tat wie geheißen. Sie ging in einer der Reifenspuren, er in der anderen. Der Himmel vor ihr sah heller aus, und sie hörte ein neues Geräusch – es ähnelte einem sanften und rhythmischen Gespräch.
    Holz, plötzlich trat sie auf Holz, und die Bäume auf beiden Seiten waren verschwunden.
    »Gehn Sie ruhig rauf«, sagte er. »Los.«
    Er kam zu ihr und fasste sie um die Taille, als führte er sie. Dann zog er die Hand fort, ließ sie allein auf den Bohlen gehen, die wie ein Schiffsdeck waren. Wie ein Schiffsdeck hoben und senkten sie sich. Aber die Bewegung rührte nicht von Wellen her, es waren ihre Schritte, seine und ihre, die dieses sachte Heben und Senken der Planken unter ihnen hervorriefen.
    »Wissen Sie jetzt, wo Sie sind?«, fragte er.
    »Auf einem Pier?«, sagte sie.
    »Auf einer Brücke. Das ist eine schwimmende Brücke.«
    Jetzt konnte sie ihn erkennen – den Bohlendamm nur ein paar Zentimeter über dem unbewegten Wasser. Er zog sie an den Rand, und sie schauten hinunter. Sterne schwammen auf dem Wasser.
    »Das Wasser ist sehr dunkel«, sagte sie. »Ich meine – so dunkel ist es nicht nur, weil Nacht ist?«
    »Es ist immer dunkel«, sagte er stolz. »Weil’s nämlich ein Sumpf ist. Da ist dasselbe Zeug drin wie in Tee, und es sieht aus wie schwarzer Tee.«
    Sie konnte das Ufer und den Schilfgürtel ausmachen. Das Wasser im Schilf war es, vom leise plätschernden Wasser kam das Geräusch.
    »Tannin«, sagte er und sprach das Wort so stolz aus, als habe er es aus dem Dunkeln heraufgeholt.
    Die sanfte Bewegung der Brücke erweckte in ihr die Vorstellung, die Bäume und das Schilf stünden auf Untersetzern aus Erde und die Straße sei ein schwimmendes Band aus Erde und unter allem sei nichts als Wasser. Und das Wasser schien vollkommen unbewegt zu sein, aber das konnte nicht stimmen, denn wenn man versuchte, einen gespiegelten Stern im Auge zu behalten, sah man, wie er zwinkerte und die Gestalt veränderte und außer Sicht glitt. Dann war er wieder da – aber vielleicht war es nicht derselbe.
    Erst in diesem Augenblick merkte sie, dass ihr Hut weg war. Sie trug ihn nicht auf dem Kopf, und sie wusste, er lag auch nicht im Auto. Sie hatte ihn nicht aufgehabt, als sie aus dem Auto stieg, um auszutreten, und als sie sich mit Ricky unterhielt. Sie hatte ihn nicht getragen, als sie im Wagen saß und sich mit geschlossenen Augen zurücklehnte, während Matt den Witz erzählte. Sie musste ihn im Maisfeld verloren und in ihrer Panik dort gelassen haben.
    Sie hatte sich davor gefürchtet, den Buckel von Matts Bauchnabel unter dem schweißnassen violetten T-Shirt zu sehen, wohingegen es ihm nichts ausgemacht hatte, ihren Kahlkopfanzuschauen.
    »Schade, dass der Mond noch nicht aufgegangen ist«, sagte Ricky. »Es ist wirklich schön hier, wenn der

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