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Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Titel: Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Zeit und wie ich jetzt, die ich an meiner Zigarette zog und mich bemühte, sie lässig zu halten, obwohl sie in meinen Fingern inzwischen die Größe eines Baseballschlägers angenommen hatte.
     
    Meine Familie führte kein geselliges Leben – niemand wurde zum Essen eingeladen, geschweige denn zu einem Fest. Vielleicht war es eine Frage der Klassenzugehörigkeit. Die Eltern des Jungen, den ich ungefähr fünf Jahre nach dieser Szene am Abendbrottisch heiratete, luden sich Leute zum Essen ein, die nicht mit ihnen verwandt waren, und gingen nachmittags auf Feste, die sie uneingebildet Cocktailpartys nannten. Es war ein Leben, wie ich es nur aus Illustrierten kannte, und für mich versetzte es meine Schwiegereltern in eine privilegierte Märchenwelt.
    Meine Familie dagegen setzte Bretter in den Esszimmertisch ein, um zwei- oder dreimal im Jahr meine Großmutter und meine Tanten – die älteren Schwestern meines Vaters – und deren Ehemänner zu bewirten. Wir taten das zu Weihnachten oder Thanksgiving, wenn wir damit an der Reihe waren, und vielleicht auch noch, wenn ein Verwandter aus einem anderen Teil der Provinz zu Besuch vorbeikam. Diese Besucher waren immer Personen ganz ähnlich wie die Tanten und ihre Ehemänner und nie im mindesten wie Alfrida.
    Meine Mutter und ich begannen mit den Vorbereitungen für solch ein Essen mehrere Tage vorher. Wir bügelten die gute Tischdecke, die so schwer wie eine Bettdecke war, und wuschen das gute Geschirr ab, das in der Vitrine Staub angesetzt hatte, und wischten die Beine der Esszimmerstühle ab, dazu machten wir die Sülzen, die Pasteten und Aufläufe, die den Puten- oder Schweinebraten und die Gemüseschüsseln begleiteten. Es musste immer viel zu viel geben, und die meisten Tischgespräche hatten mit dem Essen zu tun, die Gäste sagten, wie gut es war, und wurden gedrängt, sich noch etwas zu nehmen, und sagten, sie könnten nicht mehr, sie seien pappsatt, und dann gaben die Ehemänner der Tanten nach und nahmen sich noch etwas, und die Tanten taten sich auch noch ein ganz klein wenig auf und sagten, das dürften sie gar nicht, sie seien am Platzen.
    Und dabei gab es noch Nachtisch.
    An eine allgemeine Unterhaltung war kaum je zu denken. Tatsächlich herrschte das Empfinden, dass eine Unterhaltung, die bestimmte stillschweigende Grenzen überschritt, den Rahmen zu sprengen drohte, reine Angeberei. Meine Mutter war im Hinblick auf diese Grenzen nicht zuverlässig, und manchmal konnte sie nicht die Pausen abwarten oder die Abneigung gegen eine Vertiefung des Themas respektieren. Wenn jemand sagte: »Hab gestern Harley auf der Straße gesehen«, dann konnte es sein, dass sie fragte: »Meinst du, ein Mann wie Harley ist ein eingefleischter Junggeselle? Oder ist ihm bloß noch nicht die richtige Frau begegnet?«
    Als hätte man, wenn man erwähnte, jemanden gesehen zu haben, gewiss noch mehr dazu zu sagen, etwas
Interessantes.
    Dann konnte ein Schweigen entstehen, nicht, weil die Leute am Tisch unhöflich sein wollten, sondern weil sie perplex waren. Bis mein Vater dann in seiner Verlegenheit mit verstecktem Vorwurf sagte: »Er scheint mit sich alleine ja ganz gut zurechtzukommen.«
    Wären seine Verwandten nicht da gewesen, hätte er das »mit sich« wahrscheinlich weggelassen.
    Und alle fuhren fort, zu schneiden, zu löffeln und zu schlucken, in dem Gleißen der frischen Tischdecke und dem hellen Licht, das durch die frisch geputzten Fenster hereinströmte. Diese Mahlzeiten fanden immer mitten am Tage statt.
    Die Leute an jenem Tisch waren durchaus fähig, sich zu unterhalten. Beim Abwaschen und Abtrocknen in der Küche unterhielten sich die Tanten darüber, wer einen Tumor hatte, einen vereiterten Hals oder schlimme Furunkel. Sie berichteten, wie ihre Verdauung, ihre Nieren oder ihre Nerven funktionierten. Die Erwähnung intimer körperlicher Dinge schien nie so unziemlich oder anrüchig zu sein wie die Erwähnung von etwas, das man in einer Zeitschrift gelesen oder in den Nachrichten gehört hatte – es war irgendwie ungehörig, sich mit etwas zu beschäftigen, das nicht nahe lag. Währenddessen, beim Ausruhen auf der Veranda oder bei einem kurzen Spaziergang, um die Saaten zu begutachten, gaben die Ehemänner der Tanten die Information weiter, dass jemand bei der Bank in Schwulitäten war oder immer noch Geld für ein teures Gerät schuldete oder in einen Bullen investiert hatte, der sich als Versager herausstellte.
    Vielleicht waren sie auch nur eingeschüchtert

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