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Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Titel: Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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wahrscheinlich dabei, ihm aus der Hand zu lesen. Sie kann so was.«
    »Wirklich?«
    »Klar. Sie kommt ein paar Mal die Woche ins Restaurant. Sie kann auch aus Tee wahrsagen. Aus Teeblättern.«
    Er hob sein Fahrrad auf und schob es aus dem Weg, damit der Transporter freie Bahn hatte. Er sah zum Fahrerfenster hinein.
    »Hat die Schlüssel stecken lassen«, sagte er. »Wollen Sie, dass ich Sie nach Hause fahre oder so? Ich kann mein Fahrrad hinten reinpacken. Ihr Mann kann Matt fragen, ob er ihn und Helen fährt, wenn sie so weit sind. Oder wenn Matt nicht mehr fahren kann, dann kann’s June machen. June ist meine Mutter, aber Matt ist nicht mein Vater. Sie können nicht Auto fahren?«
    »Nein«, sagte Jinny. Sie hatte seit Monaten nicht mehr am Steuer gesessen.
    »Nein. Hab ich mir gedacht. Also? Soll ich fahren? Ja?«
     
    »Eine Straße, die ich kenne. Die bringt Sie genauso schnell hin wie die Fernstraße.«
    Sie waren nicht an den Parzellen vorbeigekommen. Sie hatten sogar die andere Richtung eingeschlagen und eine Straße genommen, die im Kreis um die Kiesgrube zu führen schien. Zumindest fuhren sie jetzt nach Westen, auf den hellsten Teil des Himmels zu. Ricky – so hieß er, hatte er ihr gesagt – hatte die Scheinwerfer noch nicht eingeschaltet.
    »Keine Gefahr, jemandem zu begegnen«, sagte er. »Ich glaube, auf dieser Straße bin ich noch nie einem Auto begegnet. Das kommt, weil nur wenige wissen, dass es die Straße überhaupt gibt.«
    »Und wenn ich das Licht anmachen würde«, sagte er, »dann war es gleich dunkel, der Himmel und alles, und Sie könnten nicht mehr sehen, wo Sie sind. Wir lassen uns noch ein bisschen Zeit, und wenn wir irgendwann die Sterne sehen können, dann stellen wir das Licht an.«
    Der Himmel war wie eine ganz schwach getönte rote oder gelbe oder grüne oder blaue Glaskuppel, je nachdem, wohin man sah.
    »Einverstanden?«
    »Ja«, sagte Jinny.
    Die Büsche und Bäume würden schwarz werden, sobald die Scheinwerfer an waren. Entlang der Straße stünden nur schwarze Klumpen, dahinter würde die schwarze Wand der Bäume aufragen, und nicht, wie jetzt, die einzelne, immer noch erkennbare Fichte und Zeder und gefiederte Lärche und das Springkraut mit seinen Blüten wie kleine flackernde Flammen. Es schien zum Greifen nahe, und sie fuhren langsam. Jinny streckte die Hand hinaus.
    Nicht ganz. Aber fast. Die Straße kam ihr kaum breiter vor als der Wagen.
    Sie meinte, das Glitzern eines vollen Straßengrabens zu sehen.
    »Ist da unten Wasser?«, fragte sie.
    »Da unten?«, sagte Ricky. »Da unten und überall. Zu beiden Seiten ist Wasser und an vielen Stellen auch unter uns. Wollen Sie’s mal sehen?«
    Er bremste, hielt an. »Schauen Sie auf Ihrer Seite runter«, sagte er. »Machen Sie die Tür auf und schauen Sie runter.«
    Als sie es tat, sah sie, dass sie auf einer Brücke waren. Eine kleine Brücke, nicht länger als drei Meter, aus kreuzweise verlegten Bohlen. Kein Geländer. Und darunter regloses Wasser.
    »Brücken die ganze Strecke«, sagte er. »Und wo keine Brücken sind, da sind überwölbte Kanäle. Denn es fließt unter der Straße immer hin und her. Oder liegt einfach da und fließt nirgendwohin.«
    »Wie tief?«, fragte sie.
    »Nicht tief. Nicht um diese Jahreszeit. Nicht, bis wir zum Großen Teich kommen – der ist tiefer. Aber im Frühjahr überflutet es die Straße, dann kann man hier nicht fahren, dann ist es tief. Diese Straße verläuft viele Meilen lang völlig eben und reicht schnurgrade vom einen Ende bis zum andern. Sie wird nicht mal von einer andren Straße gekreuzt. Soweit ich weiß, ist das die einzige Straße durch den Borneosumpf.«
    »Den Borneosumpf?«, wiederholte Jinny.
    »So heißt der angeblich.«
    »Es gibt eine Insel namens Borneo«, sagte sie. »Die ist auf der anderen Seite der Welt.«
    »Davon weiß ich nichts. Ich hab immer nur vom Borneosumpf gehört.«
    In der Mitte der Straße wuchs jetzt ein Streifen dunkles Gras.
    »Zeit fürs Licht«, sagte er. Er stellte es an, und sie befanden sich plötzlich in einem von Nacht umgebenen Tunnel.
    »Ich hab das mal gemacht«, sagte er. »Ich hab das Licht angestellt wie jetzt, und da war ein Stachelschwein. Es saß einfach da, mitten auf der Straße. Es saß aufrecht auf den Hinterbeinen und sah mich an. Wie ein kleiner alter Mann. Es hatte panische Angst und konnte sich nicht rühren. Ich hab richtig gesehen, wie seine Beißerchen klapperten.«
    Sie dachte: Hier fährt er mit seinen Mädchen

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