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Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Titel: Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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tat das, damit es den Anschein hatte, als lebte ich mit meinen Eltern und meinem Bruder und meiner Schwester in einer ganz normalen Familie in einem ordentlichen Haushalt, aber sobald andere unser Haus betraten und meine Mutter sahen, war ihnen klar, dass dem nicht so war, und sie bemitleideten uns. Etwas, das ich nicht ertragen
    Ich erhielt ein Stipendium. Ich blieb nicht zu Hause, um mich um meine Mutter zu kümmern oder irgend sonst etwas. Ich ging fort aufs College. Das College befand sich in der Stadt, in der Alfrida wohnte. Nach ein paar Monaten lud sie mich zum Abendessen ein, aber ich konnte nicht hin, denn ich arbeitete außer sonntags jeden Abend. Und zwar in der Stadtbibliothek in der Innenstadt und in der College-Bibliothek, die beide bis neun Uhr geöffnet waren. Einige Zeit später, im Laufe des Winters, lud Alfrida mich wieder ein, und diesmal war die Einladung für einen Sonntag. Ich sagte ihr, dass ich nicht kommen könne, weil ich in ein Konzert ginge.
    »Ach – du hast einen Freund?«, fragte sie, und ich sagte ja, aber zu der Zeit stimmte das gar nicht. Ich ging immer mit anderen Mädchen, einem oder mehreren, in die kostenlosen Sonntagskonzerte in der College-Aula, zum Zeitvertreib und in der leisen Hoffnung, dort Jungen zu begegnen.
    »Du musst ihn mal mitbringen«, sagte Alfrida. »Ich brenne darauf, ihn kennen zu lernen.«
    Gegen Ende des Jahres hatte ich jemanden zum Mitbringen, und ich war ihm tatsächlich bei einem Konzert begegnet. Zumindest hatte er mich bei einem Konzert gesehen, dann hatte er mich angerufen und gefragt, ob ich mit ihm ausgehen wolle. Aber ich hätte ihn nie zu Alfrida mitgenommen. Ich hätte keinen meiner neuen Freunde zu Alfrida mitgenommen. Meine neuen Freunde waren Leute, die sagten: »Hast du
Schau heimwärts, Engel
gelesen? Also das musst du lesen. Hast du die
Buddenbrooks
gelesen?« Es waren Leute, mit denen ich mir
Jeux interdits
und
Les enfants du paradis
ansah, wenn die Film Society sie zeigte. Der Junge, mit dem ich ausging und mich später verlobte, hatte mich in die Musikschule mitgenommen, wo man sich in der Mittagspause Schallplatten anhören konnte. Durch ihn lernte ich Gounod kennen, und Gounod weckte meine Liebe zur Oper, und die Oper weckte meine Liebe zu Mozart.
    Als Alfrida in meinem Studentenheim eine Nachricht hinterließ und mich um Rückruf bat, reagierte ich nicht. Danach rief sie nicht mehr an.
     
    Sie schrieb immer noch für die Zeitung – gelegentlich warf ich einen Blick auf einen ihrer Lobgesänge für Royal-Doulton-Figürchen oder importiertes Ingwergebäck oder Flitterwochen-Negligees. Höchstwahrscheinlich beantwortete sie immer noch die Briefe der Flora-Simpson-Hausfrauen und lachte immer noch darüber. Seit ich in dieser Stadt lebte, schaute ich nur noch selten in die Zeitung, die für mich einmal der Mittelpunkt großstädtischen Lebens gewesen war – und in gewisser Weise sogar der Mittelpunkt unseres häuslichen Lebens, sechzig Meilen weit entfernt. Die Witze, die zwangsläufige Unaufrichtigkeit von Leuten wie Alfrida und Pferd Henry fand ich inzwischen fade und abgeschmackt.
    Ich machte mir keine Sorgen, ihr unversehens zu begegnen, nicht einmal in dieser Stadt, die letztlich gar nicht so groß war. Ich betrat nie die Geschäfte, die sie in ihrer Kolumne erwähnte. Ich hatte keinen Grund, je am Redaktionsgebäude vorbeizugehen, und sie wohnte weit weg von meinem Studentenheim, irgendwo im Süden der Stadt.
    Auch hielt ich Alfrida nicht für jemanden, der die Bibliothek benutzte. Schon allein das Wort »Bibliothek« würde sie wahrscheinlich veranlassen, ihren großen Mund zu einer Parodie der Bestürzung zu verziehen, wie sie es angesichts der Bücher in unserem Haus getan hatte – jener Bücher, die nicht zu meiner Zeit gekauft worden waren, einige davon Schulpreise, die meine jugendlichen Eltern gewonnen hatten (mit dem Mädchennamen meiner Mutter darin, in ihrer schönen verlorenen Handschrift), Bücher, die mir überhaupt nicht wie Dinge vorkamen, die man im Laden kaufen konnte, sondern wie Wesen im Haus, ebenso wie die Bäume vor dem Fenster keine Pflanzen waren, sondern im Boden verwurzelte Wesen.
Die Mühle am Fluss, Der Ruf der Wildnis, Das Herz von Midlothian.
»Eine Menge erstklassiger Lesestoff«, hatte Alfrida gesagt. »Ich wette, du machst dich nicht sehr oft darüber her.« Und mein Vater hatte nein gesagt, wobei er ihren kameradschaftlichen Ton der Geringschätzung oder sogar Verachtung aufgriff und bis zu

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