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Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Titel: Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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konnte, wenn es auf mich angewandt wurde, intelligent bedeuten, und dann wurde es ziemlich widerwillig benutzt – »ach, in mancher Hinsicht ist sie recht schlau« –, es konnte aber auch aufdringlich, geltungssüchtig, unausstehlich bedeuten.
Sei nicht so schlau.
    Manchmal sagte meine Mutter traurig: »Du hast eine grausame Zunge.«
    Manchmal – und das war wesentlich schlimmer – hatte ich es mir gründlich mit meinem Vater verdorben.
    »Wie kommst du darauf, du hättest das Recht, anständige Leute schlecht zu machen?«
    An diesem Tag geschah nichts Derartiges – ich schien so frei wie ein Tischgast zu sein, fast so frei wie Alfrida, siegrich unter dem Banner meiner eigenen Persönlichkeit.
     
    Aber es sollte sich bald eine Kluft auftun, und vielleicht saß Alfrida an jenem Tag zum letzten Mal, zum allerletzten Mal an unserem Tisch. Weihnachtskarten wurden weiterhin ausgetauscht, vielleicht sogar Briefe – solange meine Mutter mit einem Stift umgehen konnte –, und wir lasen immer noch Alfridas Namen in der Zeitung, aber an Besuche in den letzten beiden Jahren, die ich zu Hause verbrachte, kann ich mich nicht erinnern.
    Vielleicht lag es daran, dass Alfrida angefragt hatte, ob sie ihren Freund mitbringen könne, und nein zur Antwort erhalten hatte. Falls sie damals schon mit ihm zusammenlebte, wäre das ein möglicher Grund für das Nein gewesen, und falls es derselbe Freund war wie später, hätte die Tatsache, dass er verheiratet war, einen weiteren Grund geliefert. Meine Eltern wären sich darin einig gewesen. Meine Mutter hatte einen Abscheu vor regelwidrigem oder demonstrativem Geschlechtsleben – also eigentlich vor jeglichem Geschlechtsleben, denn die zulässige, verheiratete Variante wurde überhaupt nicht eingestanden –, und auch mein Vater urteilte zu jener Zeit in seinem Leben über solche Dinge sehr streng. Vielleicht hatte er auch ganz eigene Einwände gegen einen Mann, dem es gelungen war, Alfrida an sich zu binden.
    Sie hätte sich in ihren Augen weggeworfen. Ich kann es beide sagen hören.
Sie brauchte sich doch nicht gleich wegzuwerfen.
    Aber vielleicht hatte sie auch gar nicht gefragt, vielleicht kannte sie die beiden gut genug, um sich zu hüten. Es ist auch möglich, dass es in der Zeit dieser früheren, lebhaften Besuche keinen Mann in ihrem Leben gab, und als es dann einen gab, mag sich ihr Interessenfeld verlagert haben. Möglich, dass sie ein anderer Mensch wurde, wie sie es jedenfalls später war.
    Oder vielleicht wollte sie die besondere Atmosphäre eines Haushalts meiden, in dem ein kranker Mensch ist, dessen Krankheit nur immer schlimmer wird und niemals besser. Was bei meiner Mutter der Fall war, deren Symptome sich vereinigten und eine Schwelle überschritten und statt einer Sorge und Beschwerlichkeit ihr ganzes Schicksal wurden.
    »Die Ärmste«, sagten die Tanten.
    Und während meine Mutter sich von einer Mutter in ein schwer krankes Wesen im Haus verwandelte, schienen diese anderen, früher so beschränkten Frauen in der Familie an Lebendigkeit und Lebenstüchtigkeit zu gewinnen. Meine Großmutter besorgte sich ein Hörgerät – etwas, das ihr niemand zugemutet hätte. Einer der Ehemänner der Tanten – nicht Asa, sondern der namens Irvine – starb, und die Tante, die mit ihm verheiratet gewesen war, lernte Autofahren und besorgte sich Arbeit in einem Bekleidungsgeschäft, wo sie die Änderungen vornahm, und trug kein Haarnetz mehr.
    Sie kamen vorbei, um nach meiner Mutter zu sehen, und sahen immer dasselbe – dass diejenige, die hübscher als sie gewesen war, die sie nie ganz ihren Lehrerinnenstatus hatte vergessen lassen, von Monat zu Monat in ihren Bewegungen immer langsamer und steifer und in ihrer Sprache immer unverständlicher und flehentlicher wurde und dass nichts ihr helfen konnte.
    Sie hielten mich dazu an, gut auf sie Acht zu geben.
    »Sie ist schließlich deine Mutter«, ermahnten sie mich.
    »Die Ärmste.«
    Alfrida wäre unfähig gewesen, derlei zu sagen, und vielleicht wäre sie auch unfähig gewesen, sich etwas anderes einfallen zu lassen.
    Mir war es recht, dass sie uns nicht mehr besuchte. Ich wollte keinen Besuch haben. Ich hatte keine Zeit dafür, ich war zu einer rasenden Haushälterin geworden – ich bohnerte die Fußböden und bügelte sogar die Geschirrtücher, und ich tat das alles, um gegen so etwas wie Schande anzukämpfen (der Verfall meiner Mutter kam uns vor wie eine außerordentliche Schande, die uns alle betraf). Ich

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