Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Titel: Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
Vom Netzwerk:
rechnen – im vorigen Jahr Krankenschwestern frisch von den Philippinen –, die vom ersten, gänzlich unvertrauten Schnee überrascht wurden.
    Trotzdem hatte es in einer völlig klaren Nacht und auf trockener Straße zwei Siebzehnjährige aus der Stadt erwischt. Und direkt davor war Lewis Spiers eingetroffen. Bruce hatte alle Hände voll zu tun – die Arbeit, die er an den beiden Jungen vornehmen musste, um sie ansehnlich herzurichten, hatte ihn bis weit in die Nacht beansprucht. Er hatte seinen Vater angerufen. Ed und Kitty, die immer noch den Sommer in dem Haus in der Stadt verbrachten, waren noch nicht nach Florida abgereist, und Ed war gekommen, um Lewis zu versorgen.
    Bruce war joggen gegangen, um sich zu erfrischen. Er hatte noch nicht einmal gefrühstückt und war immer noch in seinen Sportsachen, als er Mrs Spiers in ihrem alten Honda Accord vorfahren sah. Er eilte ins Wartezimmer, um ihr zu öffnen.
    Sie war eine große, magere Frau, grauhaarig, aber jugendlich rasch in ihren Bewegungen. Sie wirkte an diesem Morgen nicht allzu gramgebeugt, obwohl ihm auffiel, dass sie nicht daran gedacht hatte, einen Mantel anzuziehen.
    »Entschuldigen Sie bitte«, sagte er. »Ich bin gerade von ein bisschen Bewegung zurück. Ich fürchte, Shirley ist noch nicht da. Ihr Verlust ist auch uns nahe gegangen.«
    »Ja«, sagte sie.
    »Ich hatte bei Mr Spiers in der elften und zwölften Klasse Unterricht, und er war ein Lehrer, den ich nie vergessen werde. Wollen Sie nicht Platz nehmen? Ich weiß, Sie müssen irgendwie darauf vorbereitet gewesen sein, aber wenn das Ereignis dann eintritt, ist man nie darauf vorbereitet. Möchten Sie jetzt mit mir den Papierkram durchgehen oder möchten Sie Ihren Mann sehen?«
    Sie sagte: »Alles, was wir wollten, war eine Einäscherung.«
    Er nickte. »Ja, mit anschließender Einäscherung.«
    »Nein. Er sollte sofort eingeäschert werden. Das war sein Wunsch. Ich dachte, ich kann seine Asche abholen.«
    »Wir hatten keine dahingehenden Anweisungen«, sagte Bruce fest. »Wir haben den Leichnam zur Besichtigung vorbereitet. Er sieht sehr gut aus. Ich denke, Sie werden zufrieden sein.«
    Sie stand da und starrte ihn an.
    »Möchten Sie nicht Platz nehmen?«, sagte er. »Sie haben doch bestimmt eine Art Besichtigung geplant? Eine Art Totenfeier? Sehr viele Menschen werden sich von Mr Spiers verabschieden wollen. Sie müssen wissen, wir haben hier auch schon Gedenkfeiern ohne jegliche Glaubensrichtung abgehalten. Nur mit einem Leichenredner statt eines Predigers. Oder wenn Sie es überhaupt nicht förmlich haben wollen, können wir es so einrichten, dass Einzelne aus der Trauergemeinde aufstehen und ihre Gedanken aussprechen. Es liegt ganz bei Ihnen, ob der Sarg offen oder geschlossen sein soll. Allerdings ziehen die meisten in dieser Gegend einen offenen Sarg vor. Bei einer Feuerbestattung steht Ihnen natürlich nicht die ganze Auswahl an Särgen zur Verfügung. Aber wir führen Särge, die sehr hübsch aussehen und dabei ausgesprochen preiswert sind.«
    Stand nur da und starrte.
    Die Arbeit war ja nun einmal ausgeführt worden, und es hatte keine Anweisungen gegeben, sie nicht auszuführen. Eine Arbeit wie jede andere, die ihren Preis hatte. Ganz zu schweigen von den Materialkosten.
    »Ich rede nur von dem, was Sie voraussichtlich wollen, wenn Sie Zeit gehabt haben, sich hinzusetzen und darüber nachzudenken. Wir sind dazu da, um Ihre Wünsche auszuführen …«
    Vielleicht war das ein wenig zu viel behauptet.
    »Aber wir sind so vorgegangen, weil es keine gegenteiligen Anweisungen gab.«
    Ein Auto hielt draußen, eine Autotür schlug zu, und Ed Shore kam ins Wartezimmer. Bruce war enorm erleichtert. Er hatte in diesem Gewerbe noch viel zu lernen. So zum Beispiel den Umgang mit den Hinterbliebenen.
    Ed sagte: »Hallo, Nina. Ich hab Ihr Auto gesehen. Ich dachte, ich komme mal rein und sage Ihnen, wie leid es mir tut.«
     
    Nina hatte die Nacht im Wohnzimmer verbracht. Sie nahm an, dass sie geschlafen hatte, aber ihr Schlaf war so leicht gewesen, dass ihr die ganze Zeit bewusst geblieben war, wo sie sich befand – auf dem Wohnzimmersofa – und wo sich Lewis befand – im Bestattungsinstitut.
    Als sie jetzt etwas zu sagen versuchte, klapperten ihr die Zähne. Was für sie völlig überraschend kam.
    »Ich wollte, dass er sofort eingeäschert wird«, war, was sie zu sagen versuchte und zu sagen begann, in der Meinung, normal zu sprechen. Dann hörte und spürte sie, wie sie keuchte und

Weitere Kostenlose Bücher