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Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Titel: Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Heiligen.‹ Natürlich haben wir keine Statuen in der Kirche, obwohl ich persönlich es schön fände, welche zu haben.«
    Margaret fragte: »Kaffee?«, und verkündete damit, dass der förmliche Teil des Abends beendet war. Aber Lewis rückte mit seinem Stuhl näher zu Kitty und sagte fast freundlich: »Wie ist das nun? Sollen wir daraus entnehmen, dass Sie an diese Wunder glauben?«
    Kitty lachte. »Unbedingt. Ich könnte gar nicht leben, wenn ich nicht an Wunder glauben würde.«
    In dem Moment wusste Nina, was unweigerlich bevorstand. Lewis, der leise, aber unerbittlich attackierte, Kitty, die mit fröhlicher Überzeugung und dem, was wohl für sie charmante und weibliche Widersprüchlichkeit war, dagegenhielt. Ihr Glaube daran war unerschütterlich – an ihren eigenen Charme. Aber Lewis wollte von ihrem Charme nichts wissen. Er wollte wissen: Welche Gestalt haben die Heiligen im gegenwärtigen Augenblick angenommen? Bewohnen sie im Himmel dasselbe Revier wie die normalen Toten, die tugendhaften Vorfahren? Und wie werden sie ausgewählt? Geschieht das nicht durch die bezeugten, die bewiesenen Wunder? Und wie soll man die Wunder von jemandem beweisen, der vor fünfzehn Jahrhunderten gelebt hat? Wie soll man Wunder überhaupt beweisen? Im Fall der Brote und Fische durch Abzählen. Aber ist das richtiges Abzählen, oder ist es Wahrnehmung? Ach, Glaube? Ah ja. Also läuft alles auf den Glauben hinaus. In Alltagsdingen, in ihrem ganzen Leben baut Kitty auf den Glauben?
    So ist es.
    Sie verlässt sich nicht in irgendeiner Weise auf die Wissenschaft? Aber nein. Wenn ihre Kinder krank sind, gibt sie ihnen keine Medikamente. Sie kümmert sich nicht um Benzin für ihr Auto, sie hat ihren Glauben …
    Etliche Gespräche sind inzwischen um sie herum entstanden, und trotzdem wird ihr Gespräch, wegen seiner Intensität und seiner Bedrohlichkeit – Kittys Stimme flattert schon wie ein aufgescheuchtes Vögelchen. Seien Sie nicht albern, sagt sie, und: Meinen Sie etwa, ich bin reif für die Klapsmühle?, und Lewis’ Hänseleien werden immer verächtlicher, immer tödlicher – über alle anderen hinweg überall im Zimmer jederzeit zu hören sein.
    Nina hat einen bitteren Geschmack im Mund. Sie geht in die Küche hinaus, um Margaret zu helfen. Sie kommen aneinander vorbei, denn Margaret trägt den Kaffee hinein. Nina geht durch die Küche hindurch und hinaus in den Gang. Durch die kleine Glasscheibe in der Hintertür schaut sie zu der mondlosen Nacht hinaus, zu den Schneehaufen entlang der Straße, zu den Sternen. Sie legt ihre heiße Wange an das Glas.
    Sie richtet sich sofort auf, als die Tür zur Küche aufgeht, sie dreht sich um und lächelt und will sagen: »Ich bin nur rausgegangen, um nach dem Wetter zu sehen.« Aber als sie in dem kurzen Augenblick, bevor Ed Shore die Tür schließt, sein Gesicht gegen das Licht sieht, denkt sie, dass sie das nicht zu sagen braucht. Sie begrüßen sich mit einem kurzen, höflichen, leicht entschuldigenden und achselzuckenden Lachen, durch das offenbar viele Dinge mitgeteilt und verstanden werden.
    Sie lassen Kitty und Lewis im Stich. Nur für kurze Zeit – Kitty und Lewis werden es gar nicht merken. Lewis wird nicht die Munition ausgehen, und Kitty wird einen Weg finden – Mitleid für Lewis könnte einer sein –, sich nicht auffressen zu lassen. Kitty und Lewis werden voneinander nicht genug bekommen.
    Ist es das, was Ed und Nina empfinden? Dass sie genug haben von den anderen beiden oder zumindest genug von Streitlust und Überzeugung. Genug von dem Nie-locker-Lassen dieser kämpferischen Naturen.
    Sie würden es nicht so ausdrücken. Sie würden nur sagen, dass sie es müde sind.
    Ed Shore legt den Arm um Nina. Er küsst sie – nicht auf den Mund, nicht aufs Gesicht, sondern auf den Hals. Auf die Stelle, wo in ihrem Hals ein aufgeregter Puls schlagen könnte.
    Er ist ein Mann, der sich herunterbeugen muss, um das zu tun. Für viele Männer wäre es die natürliche Stelle, Nina zu küssen, wenn sie aufrecht steht. Aber er ist groß genug, um sich herunterbeugen zu müssen und sie ganz bewusst auf diese empfindliche Stelle zu küssen.
    »Sie werden sich hier draußen erkälten«, sagte er.
    »Ich weiß. Ich geh wieder rein.«
     
    Nina hat bis zum heutigen Tag mit keinem anderen Mann als mit Lewis Geschlechtsverkehr gehabt. Ist nie auch nur in die Nähe gekommen.
    Geschlechtsverkehr. Lange Zeit konnte sie das nicht sagen. Sie sagte dazu: sich lieben. Lewis sagte gar

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