Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)
Sir.«
Schüler wurden aufgefordert, das Klassenzimmer zu verlassen. Eltern trafen ein, um mit dem Rektor zu sprechen. Oder vielleicht hatten sie die Absicht gehabt, mit Lewis zu sprechen, aber der Rektor sorgte dafür, dass das nicht geschah. Lewis erfuhr erst später von diesen Gesprächen, als im Lehrerzimmer darüber mehr oder weniger scherzhafte Bemerkungen fielen.
»Sie brauchen sich deswegen keine Sorgen zu machen«, sagte der Rektor – er hieß Paul Gibbings und war ein paar Jahre jünger als Lewis. »Die brauchen nur das Gefühl, dass man Ihnen zuhört. Die brauchen ein bisschen Zuspruch.«
»Den hätten sie von mir bekommen«, sagte Lewis.
»Bestimmt. Allerdings nicht ganz den Zuspruch, den ich im Sinn habe.«
»Wir brauchen ein Schild. Hunde und Eltern haben keinen Zutritt.«
»Da ist was dran«, sagte Paul Gibbings freundlich seufzend. »Aber ich fürchte, sie haben ihre Rechte.«
In der Lokalzeitung begannen Briefe zu erscheinen. Einer alle vierzehn Tage, unterschrieben mit »Besorgte Eltern« oder »Christlicher Steuerzahler« oder »Wohin soll das führen?« Sie waren gut formuliert, ordentlich gegliedert und geschickt begründet, als stammten sie alle von ein und derselben Hand. Sie argumentierten, dass nicht alle Eltern die Gebühren für die private Christliche Schule aufbringen konnten, dass aber alle Eltern Steuern zahlten. Deswegen hatten sie Anspruch auf einen Unterricht in öffentlichen Schulen, der den Glauben ihrer Kinder nicht gefährdete oder gar bewusst erschütterte. In wissenschaftlicher Sprache erklärten manche, wie die vorgeschichtlichen Zeugnisse missverstanden worden waren und wie Entdeckungen, die die Evolutionstheorie zu stützen schienen, in Wahrheit die biblische Schöpfungsgeschichte bestätigten. Dann folgten Bibelzitate, die nicht nur die heutigen falschen Lehren voraussagten, sondern auch, wie sie unvermeidlich dazu führten, dass die Menschen vom rechten Lebensweg gänzlich abkamen.
Im Laufe der Zeit änderte sich der Ton; er wurde ingrimmig. Nun hatten die Handlanger des Antichrist sich der Regierung und der Klassenzimmer bemächtigt. Die Klauen Satans griffen nach den Seelen von Kindern, die in ihren Prüfungen dazu gezwungen wurden, die Irrlehren der Verdammnis wiederzugeben.
»Was ist der Unterschied zwischen Satan und dem Antichrist, falls es überhaupt einen gibt?«, fragte Nina. »Die Quäker waren in der Hinsicht sehr nachlässig.«
Lewis sagte, er könne gerne darauf verzichten, dass sie das Ganze als Witz behandele.
»Tut mir leid«, sagte sie ernüchtert. »Was meinst du, wer sie tatsächlich schreibt? Ein Geistlicher?«
Er sagte nein, dafür war es zu gut organisiert. Wahrscheinlich eine durchgeplante Kampagne, eine Zentrale, die Briefe an örtliche Absender ausgab, die sie dann abschickten. Er bezweifelte, dass es überhaupt hier, in seinem Klassenzimmer, angefangen hatte. Es war alles genau abgestimmt, Schulen wurden herausgegriffen, wahrscheinlich in Gebieten, wo gute Aussicht auf öffentliche Unterstützung bestand.
»Also ist es nicht persönlich?«
»Das ist kein Trost.«
»Nein? Hätte ich aber gedacht.«
Jemand schrieb »Höllenfeuer« auf Lewis’ Auto. Es war nicht mit Farbe aufgesprüht, nur mit dem Finger in den Staub gemalt.
Seine Oberstufenklasse wurde von einigen Schülern boykottiert. Sie setzten sich draußen im Flur auf den Fußboden, mit Briefen von ihren Eltern bewaffnet. Als Lewis mit dem Unterricht begann, fingen sie an zu singen.
Alles Gute, alles Schöne
Alles Leben groß und klein
Alle Farben, alle Töne
Das schuf Gott der Herr allein …
Der Rektor berief sich auf eine Vorschrift, wonach es nicht erlaubt war, im Flur auf dem Fußboden zu sitzen, aber er schickte sie nicht zurück ins Klassenzimmer. Sie mussten in einen Lagerraum neben der Turnhalle gehen, wo sie weitersangen – sie hatten noch weitere Choräle parat. Ihre Stimmen mischten sich unangenehm mit den Anweisungen des Sportlehrers und dem Stampfen der Füße auf dem Boden der Turnhalle.
An einem Montagmorgen lag eine Bittschrift auf dem Schreibtisch des Rektors, und gleichzeitig wurde eine Kopie davon in der Redaktion der Lokalzeitung abgegeben. Die Unterschriften stammten nicht nur von den Eltern der betroffenen Kinder, sondern waren auch bei verschiedenen Kirchengemeinden in der Stadt gesammelt worden. Die meisten kamen aus fundamentalistischen Gemeinden, aber es gab auch einige von Unitariern und Anglikanern und Presbyterianern.
Das Höllenfeuer
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