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Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Titel: Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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unkontrollierbar stotterte.
    »Ich will … ich will … er wollte …«
    Ed Shore nahm ihren Unterarm und legte den anderen Arm um ihre Schulter. Bruce streckte die Hände aus, fasste sie aber nicht an.
    »Ich hätte darauf achten sollen, dass sie sich hinsetzt«, sagte er kleinlaut.
    »Schon gut«, sagte Ed. »Ist Ihnen danach, zu meinem Auto rauszugehen, Nina? Wir besorgen Ihnen ein bisschen frische Luft.«
    Ed fuhr mit heruntergelassenen Fenstern zum alten Teil der Stadt und weiter zu einer Straße, die an einem Wendeplatz endete, von dem aus man den See überblickte. Tagsüber fuhren die Leute hierher, um die Aussicht zu genießen – und dabei manchmal ihren Mittagsimbiss zu verzehren –, aber nachts war es ein Ort für Liebespärchen. Vielleicht kam Ed dieser Gedanke, wie er ihr kam, als er anhielt.
    »Genug frische Luft?«, fragte er. »Sie sollen sich ja nicht erkälten, ohne Mantel an.«
    Sie sagte sorgfältig: »Es wird warm. Wie gestern.«
    Sie hatten nie so im Auto zusammengesessen, weder nach Einbruch der Dunkelheit noch bei Tageslicht, und auch nie einen solchen Ort aufgesucht, um allein zu sein.
    Es schien abgeschmackt, jetzt daran zu denken.
    »Tut mir leid«, sagte Nina. »Ich habe die Beherrschung verloren. Ich wollte nur sagen, dass Lewis … dass wir … dass er …«
    Und es setzte wieder ein. Mit voller Wucht, das Zähneklappern, das Zittern, das Zersplittern der Wörter. Die grauenhafte Hilflosigkeit. Es war nicht einmal Ausdruck dessen, was sie wirklich empfand. Was sie vorhin empfunden hatte, als sie mit Bruce reden – oder ihm zuhören – musste, war Zorn und bittere Enttäuschung. Jetzt hatte sie eigentlich das Empfinden, völlig ruhig und vernünftig zu sein.
    Und jetzt, weil sie allein waren, fasste er sie nicht an. Er fing einfach an zu reden. Machen Sie sich keine Sorgen. Ich kümmere mich um alles. Sofort. Ich sehe zu, dass es in Ordnung kommt. Ich verstehe. Einäscherung.
    »Einatmen«, sagte er. »Tief einatmen. Jetzt die Luft anhalten. Jetzt ausatmen.«
    »Ich bin nicht krank.«
    »Natürlich nicht.«
    »Ich weiß nicht, was los ist.«
    »Das ist der Schock«, sagte er sachlich.
    »Ich bin sonst nicht so.«
    »Schauen Sie zum Horizont. Das hilft auch.«
    Er holte etwas aus der Tasche. Ein Taschentuch? Aber sie brauchte kein Taschentuch. Sie kämpfte nicht mit den Tränen. Sie kämpfte mit einem Zittern im Körper.
    Es war ein klein zusammengefaltetes Blatt Papier.
    »Ich habe das für Sie aufgehoben«, sagte er. »Es war in seiner Pyjamatasche.«
    Sie steckte den Zettel in ihre Handtasche, sorgfältig und ohne Aufregung, als handelte es sich um ein ärztliches Rezept. Dann wurde ihr klar, was er ihr eben alles mitgeteilt hatte.
    »Sie waren da, als er eingeliefert wurde.«
    »Ich hab mich um ihn gekümmert. Bruce hat mich angerufen. Es gab den Autounfall, und er hatte mehr zu tun, als er bewältigen konnte.«
    Sie fragte nicht einmal: Welcher Unfall? Es war ihr egal. Sie wollte nur noch allein sein, um die für sie bestimmte Nachricht zu lesen.
    Die Pyjamatasche. Die einzige Stelle, wo sie nicht nachgesehen hatte. Sie hatte seinen Körper nicht angefasst.
    * * *
    Sie fuhr mit ihrem eigenen Auto nach Hause, nachdem Ed sie zurückgebracht hatte. Er winkte ihr nach, und sobald er nicht mehr zu sehen war, hielt sie an. Noch im Fahren hatte sie mit einer Hand den Zettel aus der Handtasche gefingert. Bei laufendem Motor las sie, was darauf geschrieben stand, dann fuhr sie weiter.
    Auf dem Bürgersteig vor ihrem Haus stand eine neuerliche Botschaft.
    Der Wille Gottes.
    Hastige, krakelige Schrift mit Kreide. Sie ließ sich bestimmt leicht wegwischen.
    Was Lewis geschrieben und ihr hinterlassen hatte, war ein Gedicht. Mehrere Strophen bissiger, holperiger Knüttelverse. Es hatte einen Titel: »Der Kampf der Genesisisten und der Söhne von Darwin um die Seele der Schlaffen Generation«.
    Ein Tempel der Gelehrsamkeit
    Erhob am Huron sein Gemäuer,
    Dort lauschte manche taube Nuss
    Manch einschläferndem Wiederkäuer.
     
    Es herrschte da ein feiner Kerl,
    Das Maul vom Grienen ganz verquollen,
    Im Kopf nur einen Leitsatz drin:
    Sag allen, was sie hören wollen!
     
    Vor Jahren hatte Margaret im Winter die Idee gehabt, eine Reihe von Abenden zu organisieren, an denen man einen nicht allzu ausführlichen Vortrag über irgendein Thema halten konnte, das einem am Herzen lag. Sie dachte dabei an Lehrer (»Lehrer sind ständig gezwungen, sich vor ein unfreiwilliges Publikum zu stellen

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