Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)
ließ meine Handgelenke los und packte meine Schultern. Sein Griff drückte immer noch eher Zurückhaltung als Trost aus.
Wir blieben so, bis das Unwetter nachließ. Das konnte nicht mehr als fünf Minuten gedauert haben, vielleicht nur zwei oder drei. Es regnete immer noch, aber jetzt war es normaler starker Regen. Er nahm die Hände fort, und wir standen zittrig auf. Unsere Sachen klebten uns am Leib. Meine Haare hingen mir in langen Strähnen ins Gesicht, und seine Haare lagen in kurzen dunklen Stummeln auf seiner Stirn. Wir versuchten zu lächeln, konnten aber kaum die Kraft dazu aufbringen. Dann küssten wir uns und umarmten uns kurz. Es war eher ein Ritual anlässlich unseres Überlebens als ein Bedürfnis unserer Körper. Unsere Lippen glitten aneinander, glatt und kühl, und vom Druck der Umarmung fröstelten wir, denn unsere Kleidung troff von kaltem Wasser.
Von Minute zu Minute ließ der Regen nach. Wir bahnten uns ein wenig unsicher einen Weg durch das umgeknickte Unkraut, dann zwischen den dichten, triefenden Sträuchern hindurch. Überall waren mächtige Äste auf den Golfplatz geschleudert worden. Erst später kam mir der Gedanke, dass uns jeder davon hätte erschlagen können.
Wir liefen über den Rasen, machten Umwege um die großen der abgerissenen Äste. Der Regen hatte fast aufgehört, und es hatte sich aufgehellt. Ich ging mit gesenktem Kopf – damit das Wasser in meinen Haaren zu Boden tropfte und mir nicht übers Gesicht lief –, und ich spürte die Wärme der Sonne auf den Schultern, ehe ich zu ihrem festlichen Licht aufsah.
Ich blieb stehen, atmete tief durch und schwang die Haare aus dem Gesicht. Jetzt war es an der Zeit für uns, durchnässt und in Sicherheit und von strahlendem Glanz umgeben. Jetzt musste etwas gesagt werden.
»Da ist was, das du noch nicht weißt.«
Seine Stimme überraschte mich, wie die Sonne. Aber ganz anders. Es lag eine Schwere darin, eine Warnung – Entschlossenheit mit einem Anflug von Entschuldigung.
»Über unseren jüngsten Sohn«, sagte er. »Unser jüngster Sohn ist im vorigen Sommer ums Leben gekommen.«
O nein.
»Er ist überfahren worden«, sagte er. »Ich war es, der ihn überfahren hat. Beim Zurücksetzen in der Ausfahrt.«
Ich blieb wieder stehen. Er auch. Wir sahen beide vor uns hin.
»Er hieß Brian. Er war drei Jahre alt.
Das kam, weil ich dachte, er liegt oben im Bett. Die anderen waren noch auf, aber er war zu Bett gebracht worden. Dann muss er wieder aufgestanden sein.
Trotzdem hätte ich hinsehen müssen. Ich hätte sorgfältiger hinsehen müssen.«
Ich dachte an den Augenblick, als er aus dem Auto stieg. Das Geräusch, das entstanden sein musste. Der Augenblick, als die Mutter des Kindes aus dem Haus gerannt kam.
Das ist er nicht, er ist nicht hier, es ist nicht passiert.
Oben im Bett.
Er ging wieder weiter, auf den Parkplatz zu. Ich ging ein Stückchen hinter ihm. Und ich sagte nichts – kein einziges freundliches, normales, hilfloses Wort. Wir waren darüber hinaus.
Er sagte nicht: Es war meine Schuld, und ich werde nie darüber hinwegkommen. Ich werde mir das nie verzeihen. Aber ich versuche damit umzugehen, so gut ich kann.
Oder: Meine Frau verzeiht mir, aber sie wird auch nie darüber hinwegkommen.
Ich wusste das alles. Ich wusste jetzt, dass er ein Mensch war, der durch die Hölle gegangen war. Ein Mensch, der genau wusste – wie ich es nicht wusste, nicht einmal annähernd –, wie es in der Hölle aussah. Er und seine Frau wussten das gemeinsam, und es schmiedete sie zusammen, wie so etwas zwei Menschen entweder auseinander bringt oder fürs Leben zusammenschmiedet. Nicht, dass sie in der Hölle lebten. Aber sie teilten ein Wissen davon – von jenem kalten, leeren, abgeschlossenen und zentralen Ort.
Das kann jedem passieren.
Ja. Aber so kommt es einem nicht vor. Es kommt einem vor, als passiere es mal diesem, mal jenem, der mal da, mal dort dazu bestimmt worden ist, jeweils ein Einzelfall.
Ich sagte: »Das ist ungerecht.« Ich meinte das Austeilen dieser sinnlosen Strafen, dieser bösen und zerstörenden Schicksalsschläge. In gewisser Weise vielleicht noch schlimmer, als wenn sie inmitten von allgemeinem Leid passieren, in Kriegen oder Naturkatastrophen. Am allerschlimmsten, wenn es denjenigen gibt, dessen Tat, wahrscheinlich eine uncharakteristische Tat, einzig und auf Dauer dafür verantwortlich ist.
Das meinte ich. Aber mir war auch im Sinn:
Das ist ungerecht. Was hat das mit uns zu tun?
Ein
Weitere Kostenlose Bücher