Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Titel: Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
Vom Netzwerk:
herausstellte, schafften wir sie nicht. Ein Regentropfen fiel, ganz unzweifelhaft ein Regentropfen, dann noch einer, dann ein leichter Schauer. Mike schaute über den Platz, dorthin, wo die Wolken die Farbe gewechselt hatten und nicht mehr weiß, sondern dunkelblau waren, und sagte ohne besondere Besorgnis oder Enttäuschung: »Da kommt unser Unwetter.« Er packte methodisch die Schläger ein.
    Wir waren zu dem Zeitpunkt so weit fort vom Clubhaus, wie es nur ging. Die Vögel verstärkten ihren Tumult und kreisten aufgeregt, unentschlossen. Die Baumwipfel schwankten, und wir vernahmen ein Geräusch – es schien über uns zu sein –, als krachte eine Sturzwelle voller Steine auf den Strand. Mike sagte: »Na, dann. Am besten da rein«, und er nahm meine Hand und hastete mit mir über den Rasen zu den Sträuchern und dem hohen Unkraut, das zwischen dem Golfplatz und dem Fluss wuchs.
    Die Sträucher direkt am Rand des Rasens hatten dunkle Blätter und ein beinahe förmliches Aussehen wie eine dort angepflanzte Hecke. Aber sie waren wild gewachsenes Gebüsch. Außerdem sahen sie undurchdringlich aus, aber von nahem waren kleine Lücken zu erkennen, schmale Pfade, die Tiere oder nach Golfbällen suchende Menschen hinterlassen hatten. Der Boden war leicht abschüssig, und sobald man sich durch die unregelmäßige Mauer der Sträucher gekämpft hatte, sah man ein Stückchen vom Fluss – dem Fluss, der die Ursache für das Schild am Tor, für den Namen am Clubhaus war. Riverside Golf Club. Das Wasser war stahlgrau und strömte in langen Wogen, brach nicht in kurze, kleine Wellen auf, wie es das Wasser eines Teichs getan hätte, in diesem Ansturm des Unwetters. Zwischen uns und dem Ufer lag eine Wiese mit Wildpflanzen, die offenbar alle in Blüte standen. Goldrute, Springkraut mit seinen roten und gelben Glöckchen, dann das, was ich mit seinen rosa-violetten Blütentrauben für Taubnesseln hielt, und wilde Astern. Auch wilder Wein, der alles, was er finden konnte, ergriff und einwickelte und unseren Füßen Fallen stellte. Der Boden war weich, nicht sehr lehmig, selbst die dünnstieligsten, zartesten Pflanzen waren fast mannshoch gewachsen oder überragten uns sogar. Wenn wir stehen blieben und durch sie aufblickten, sahen wir, dass die Bäume gar nicht weit von uns umhergeschleudert wurden wie Blumensträuße. Und wir sahen etwas kommen, aus der Richtung der mitternächtigen Wolken. Es war der richtige Regen, der hinter dem Getröpfel auf uns zukam, aber er schien wesentlich mehr als nur Regen zu sein. Es war, als hätte ein großer Teil des Himmels sich abgelöst und stürzte nun geschäftig und energisch in nicht ganz erkennbarer, aber belebter Gestalt herunter. Regenvorhänge – nicht Schleier, sondern dichte und heftig flatternde Vorhänge – wurden davon vorangetrieben. Wir konnten sie deutlich sehen, während wir immer noch nichts weiter spürten als diese sanften, trägen Tropfen. Es war fast, als blickten wir durch ein Fenster und glaubten nicht ganz, dass das Fenster bald zersplittern würde, bis es geschah und der Sturmwind uns mit voller Wucht traf und meine Haare erfasste und rings um meinen Kopf hochblies. Ich hatte das Gefühl, gleich würde das meiner Haut auch so ergehen.
    Ich versuchte mich umzudrehen – anders als vorher hatte ich den Drang, von den Sträuchern fort und zum Clubhaus zu rennen. Aber ich konnte mich nicht bewegen. Es war schwer genug, sich auf den Beinen zu halten – draußen im Freien hätte der Wind uns sofort umgeweht.
    Vorgebeugt, mit dem Kopf voran durch die Pflanzen und gegen den Wind kam Mike um mich herum und hielt die ganze Zeit meinen Arm fest. Dann stand er mir gegenüber, sein Körper zwischen mir und dem Orkan. Doch das half nicht mehr, als ein Zahnstocher geholfen hätte. Er sagte etwas, mir direkt ins Gesicht, aber ich konnte ihn nicht hören. Er brüllte, aber mich erreichte von ihm kein Laut. Er hatte jetzt auch meinen anderen Arm ergriffen, verlagerte seinen Griff und hielt mich bei den Handgelenken fest. Er zog mich hinunter – wir taumelten beide, sobald wir versuchten, unsere Stellung zu verändern –, bis wir am Boden kauerten. So dicht beieinander, dass wir uns nicht ansehen konnten – wir konnten nur hinunterschauen, auf die kleinen Wasserläufe, die bereits die Erde um unsere Füße aufbrachen, und auf die zertretenen Pflanzen und unsere durchweichten Schuhe. Und sogar das sahen wir nur durch den Wasserfall, der jedem übers Gesicht lief.
    Mike

Weitere Kostenlose Bücher