Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)
nicht einschlafen, schimpfte im Geist auf Polly.
Es war heiß am Okanagan Lake, und durch die Hitze wirkte der Sommer dort echter als der Sommer an der Küste. Die Hügel mit ihrem ausgeblichenen Gras und der spärliche Schatten der genügsamen Kiefern muteten wie der natürliche Hintergrund für eine so festliche Hochzeit an, mit den endlosen Strömen von Champagner, dem Tanzen und Flirten, dem Überschwang spontaner Sympathie und Freundschaft. Lorna war rasch betrunken und staunte, wie leicht es ihr mit dem Alkohol fiel, sich aus der Umklammerung ihres Gemüts zu befreien. Der Nebel der Hoffnungslosigkeit löste sich auf. Als sie zu Bett ging, war sie immer noch betrunken und dazu wollüstig erregt, was Brendan zugute kam. Sogar der Kater am nächsten Morgen kam ihr sanft vor, eher reinigend als bestrafend. Matt, aber keineswegs unzufrieden mit sich lag sie am Ufer des Sees und sah zu, wie Elizabeth mit Brendans Hilfe eine Strandburg baute.
»Hast du gewusst, dass dein Daddy und deine Mami sich auf einer Hochzeit kennen gelernt haben?«, fragte sie.
»Aber auf einer, ziemlich anders als diese«, sagte Brendan. Er meinte, dass die Hochzeit, bei der er zu Gast war, als einer seiner Freunde die McQuaig-Tochter heiratete (die McQuaigs gehörten in Lornas Heimatstadt zu den ersten Familien), offiziell alkoholfrei gewesen war. Der Empfang hatte im Gemeindesaal der Presbyterianer stattgefunden – Lorna war eins der Mädchen, die Sandwiches herumreichten –, und der Alkohol war in aller Eile auf dem Parkplatz konsumiert worden. Lorna war es nicht gewohnt, dass Männer nach Whisky rochen, und dachte, Brendan hätte zu viel von einem unbekannten Haarwasser benutzt. Trotzdem bewunderte sie seine mächtigen Schultern, seinen Stiernacken, sein Lachen und seine gebieterischen goldbraunen Augen. Als sie erfuhr, dass er Mathematiklehrer war, verliebte sie sich auch in den Inhalt seines Kopfes. Jedwedes Wissen, das ein Mann sich erworben hatte und das ihr völlig fremd war, versetzte sie in Erregung. Das Wissen eines Automechanikers hätte es ebenso gut getan.
Dass er sich auch von ihr angezogen fühlte, kam ihr geradezu wie ein Wunder vor. Später erfuhr sie, dass er eine Frau zum Heiraten gesucht hatte; er war alt genug, es wurde Zeit. Er wollte ein junges Mädchen. Keine Kollegin oder Studentin, vielleicht nicht einmal die Art Mädchen, die von den Eltern aufs College geschickt werden konnten. Unverdorben. Intelligent, aber unverdorben. Eine Wildblume, sagte er in der Hitze jener ersten Tage und manchmal sogar jetzt noch.
Auf der Rückfahrt ließen sie irgendwo zwischen Keremeos und Princeton dieses heiße goldene Land hinter sich. Aber immer noch schien die Sonne, und Lorna spürte nur ein leises Unbehagen, wie ein Haar vor den Augen, das sich wegpusten ließ oder auch von allein wegflog.
Aber es kehrte immer wieder. Es wurde bedrohlicher und hartnäckiger, bis es sie schließlich ansprang und sie es erkannte.
Sie hatte Angst – war sich halb sicher, dass, während sie am Okanagan Lake waren, Polly in der Küche des Hauses in North Vancouver Selbstmord begangen hatte.
In der Küche. Lorna hatte ein ganz klares Bild davon. Sie sah genau vor sich, wie Polly es getan hatte. Sie hatte sich an der Hintertür erhängt. Wenn sie heimkamen, wenn sie von der Garage zum Haus gingen, würden sie die Hintertür verschlossen finden. Sie würden aufschließen und versuchen, sie aufzustoßen, es aber nicht schaffen, weil Pollys Körper dagegen drückte. Sie würden zur Vordertür hasten und so in die Küche gelangen und vor dem Anblick der toten Polly stehen. Sie würde den gerüschten Glockenrock aus Jeansstoff und die weiße, weit ausgeschnittene Folklore-Bluse tragen – das tapfere Kostüm, in dem sie angekommen war, um Lornas und Brendans Gastfreundschaft auf die Probe zu stellen. Ihre langen blassen Beine, die herunterbaumelten, ihr Kopf tödlich verdreht auf dem zarten Hals. Vor ihrem Körper würde der Küchenstuhl stehen, auf den sie geklettert war und von dem sie heruntergestiegen oder -gesprungen war, um herauszufinden, wie Elend sich selbst ein Ende setzen konnte.
Alleine in dem Haus von Menschen, die sie nicht wollten, wo sie das Gefühl haben musste, dass sogar die Wände und die Fenster und die Tasse, aus der sie Kaffee trank, sie verachteten.
Lorna erinnerte sich daran, wie sie einmal mit Polly allein geblieben war, im Haus der Großmutter für einen Tag in Pollys Obhut. Vielleicht war ihr Vater im
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