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Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Titel: Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Lorna. »Nein. Hab ich nicht. Macht nichts, du kannst ja alles auswendig.
    Sie begann gemeinsam mit Elizabeth.
    »In einem Haus in Paris, überwachsen von Wein,
    Wohnten zwölf kleine Mädchen in zwei geraden Reih’n.
    In zwei geraden Reih’n aßen sie ihr Baguette,
    Putzten sich die Zähne und gingen zu Bett …«
    Das ist Blödsinn, das ist Melodrama, das ist Schuldbewusstsein. Das wird nicht passiert sein.
    Aber solche Dinge passieren wirklich. Manche Menschen verzweifeln, ihnen wird nicht rechtzeitig geholfen. Ihnen wird überhaupt nicht geholfen. Manche Menschen stürzen in den Abgrund.
    »Doch mitten in der tiefsten Nacht
    Ist Mademoiselle Clavel erwacht.
    Sie drückte auf den Knopf fürs Licht
    Und sagte: ›Etwas stimmt hier nicht …‹«
    »Mami«, sagte Elizabeth. »Warum hast du aufgehört?«
    Lorna sagte: »Es geht gleich weiter. Mein Mund ist so trocken.«
     
    Bei Hope gab es Hamburger und Milchshakes. Dann die Fahrt durch das Fraser Valley, die Kinder schliefen auf dem Rücksitz. Immer noch Zeit übrig. Bis sie durch Chilliwack kamen, bis sie durch Abbotsford kamen, bis sie die Hügel von New Westminster vor sich sahen, die übrigen von Häusern gekrönten Hügel, die Anfänge der Stadt. Immer noch Brücken, über die sie fahren mussten, Abzweigungen, die sie nehmen mussten, Straßen, die sie entlangfahren mussten, Kreuzungen, die sie überqueren mussten. All das in der Zeit davor. Wenn sie das nächste Mal etwas davon sah, würde es in der Zeit danach sein.
    Als sie in den Stanley Park fuhren, kam ihr der Gedanke, zu beten. Das war schamlos – das opportunistische Beten einer Ungläubigen. Die Litanei des Lass-es-nicht-geschehen, lass-es-nicht-geschehen.
Lass-es-nicht-geschehen-sein.
    Der Tag war immer noch wolkenlos. Von der Lion’s Gate Bridge blickten sie auf die Meerenge von Georgia.
    »Kannst du heute Vancouver Island sehen?«, fragte Brendan. »Schau du, ich kann nicht.«
    Lorna reckte den Hals, um an ihm vorbeizuspähen.
    »Weit fort«, sagte sie. »Ganz schwach, aber es ist da.«
    Und mit dem Blick auf diese blauen, allmählich verschwimmenden und sich schließlich fast auflösenden Buckel, die auf dem Meer zu treiben schienen, dachte sie an das eine, was ihr noch übrig blieb. Schließe einen Tauschhandel ab. Glaube daran, dass es noch möglich ist, bis zur letzten Minute möglich ist, einen Tauschhandel abzuschließen.
    Es musste etwas Ernstes sein, ein äußerst schwerwiegendes und schmerzliches Versprechen oder Angebot. Nimm das. Ich verspreche das. Wenn es dadurch nicht wahr ist, nicht geschehen ist.
    Nicht die Kinder. Sie stieß diesen Gedanken fort, als müsste sie die Kinder aus dem Feuer reißen. Nicht Brendan, aus dem entgegengesetzten Grund. Sie liebte ihn nicht genug. Sie sagte immer, dass sie ihn liebte, und sie meinte es auch bis zu einem gewissen Grad, und sie wollte von ihm geliebt werden, aber unter ihrer Liebe lag nahezu ständig ein leiser Brummton von Hass. Also wäre es verwerflich und auch nutzlos, ihn bei einem Tauschhandel anzubieten.
    Sich selbst? Ihr Aussehen? Ihre Gesundheit?
    Ihr kam der Gedanke, dass sie vielleicht auf dem Holzweg war. In einem solchen Fall hatte sie vielleicht gar nicht die Wahl. Bestimmte nicht die Bedingungen. Sie würde sie erkennen, wenn sie ihr begegneten. Sie musste versprechen, sich daran zu halten, ohne sie vorher zu kennen. Fest versprechen.
    Aber nichts, was mit den Kindern zu tun hatte.
    Die Capilano Road hinauf, in ihren Teil der Stadt und in ihre Ecke der Welt, in der ihr Leben sein wahres Gewicht bekam und ihr Handeln Konsequenzen hatte. Da waren sie zu sehen, durch die Bäume, die schroffen hölzernen Wände ihres Hauses.
     
    »Die Vordertür wäre leichter«, sagte Lorna. »Dann hätten wir keine Stufen.«
    Brendan sagte: »Was ist denn an ein paar Stufen so schwierig?«
    »Ich hab gar nicht die Brücke gesehen«, klagte Elizabeth, plötzlich hellwach und enttäuscht. »Warum habt ihr mich nicht geweckt für die Brücke?«
    Keiner antwortete ihr.
    »Daniels Arm hat Sonnenbrand«, sagte sie im Tonfall unvollständiger Zufriedenheit.
    Lorna hörte Stimmen und meinte, sie kämen aus dem Garten des Nachbarhauses. Sie folgte Brendan ums Haus herum. Daniel lag, noch schwer vom Schlaf, an ihrer Schulter. Sie trug die Tasche mit den Windeln und die Tasche mit den Kinderbüchern, und Brendan trug den Koffer.
    Sie sah, dass die Personen, deren Stimmen sie gehört hatte, in ihrem eigenen Garten saßen. Polly und Lionel. Sie hatten

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