Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)
Geschäft. Aber in ihrer Vorstellung war er auch fort gewesen, zusammen mit den anderen beiden Erwachsenen. Es musste ein ungewöhnlicher Anlass gewesen sein, da sie sich nie auf Einkaufsfahrten begaben, geschweige denn auf Vergnügungsfahrten. Eine Beerdigung – nahezu mit Sicherheit eine Beerdigung. Der Tag war ein Sonnabend, es war schulfrei. Lorna war sowieso noch zu klein, um zur Schule zu gehen. Ihre Haare waren noch nicht lang genug, um zu Zöpfen geflochten zu werden. Sie flogen in dünnen Strähnen um ihren Kopf, wie Pollys Haare es jetzt taten.
Polly machte eine Phase durch, in der sie es liebte, Karamellbonbons oder andere reichhaltige Süßspeisen aus dem Kochbuch ihrer Großmutter zuzubereiten. Schokoladendattelkuchen, Makronen, Schaumgebäck. Sie war an dem Tag gerade dabei, etwas anzurühren, als sie feststellte, dass eine Zutat, die sie brauchte, nicht im Küchenschrank war. Sie musste mit dem Fahrrad zur Innenstadt fahren und sie im Geschäft anschreiben lassen. Das Wetter war windig und kalt, der Erdboden kahl – es musste Spätherbst oder Vorfrühling gewesen sein. Bevor sie ging, schloss Polly die Luftklappe am Holzherd. Trotzdem dachte sie an Geschichten von Kindern, die bei Bränden umgekommen waren, als ihre Mütter zu ähnlichen Besorgungen kurz aus dem Haus gelaufen waren. Also wies sie Lorna an, sich den Mantel anzuziehen, und brachte sie hinaus, zu dem Winkel zwischen der Küche und dem Hauptteil des Hauses, wo der Wind nicht so stark wehte. Das Haus nebenan musste abgeschlossen gewesen sein, sonst hätte sie sie dorthin bringen können. Sie trug ihr auf, sich nicht von der Stelle zu rühren, und fuhr zum Geschäft. Bleib hier, nicht weglaufen, hab keine Angst, sagte sie. Dann küsste sie Lorna aufs Ohr. Lorna gehorchte ihr aufs Wort. Zehn oder vielleicht fünfzehn Minuten lang blieb sie hinter dem weißen Fliederbusch hocken, lernte die Formen der Steine, der hellen und der dunklen, in der Grundmauer des Hauses auswendig. Bis Polly zurückgesaust kam und das Fahrrad im Hof hinwarf und ihren Namen rief. Lorna, Lorna, ließ sie die Tüte mit braunem Zucker oder Walnüssen los und küsste sie überall auf den Kopf. Denn ihr war eingefallen, dass Lorna in ihrem Winkel von lauernden Kidnappern entdeckt worden sein konnte – von den bösen Männern, die der Grund dafür waren, dass Mädchen nicht zu der Wiese hinter den Häusern hinunterdurften. Sie hatte auf dem ganzen Heimweg gebetet, es möge nicht passiert sein. War es ja auch nicht. Sie schleppte Lorna ins Haus, um ihr die bloßen Knie und Hände zu wärmen.
Ach je, die armen kleinen Händchen, sagte sie. Ach je, hast du dich gefürchtet? Lorna liebte das Getue und senkte den Kopf, um gestreichelt zu werden, als wäre sie ein Pony.
Die Kiefern machten dichterem Nadelwald Platz, die Buckel der braunen Hügel den steileren blaugrünen Bergen. Später bat sie Brendan anzuhalten, damit sie das Baby auf den Vordersitz legen und die Windeln wechseln konnte. Brendan ging derweil ein Stück spazieren und rauchte eine Zigarette. Windelprozeduren kränkten ihn immer ein wenig.
Lorna benutzte die Gelegenheit auch dazu, eins von Elizabeths Kinderbüchern herauszuholen, und als sie alle wieder im Wagen saßen, las sie den Kindern vor. Es war ein Dr.-Seuss-Buch. Elizabeth kannte alle Reime auswendig, und sogar Daniel hatte schon eine Ahnung, wo er mit seinen erfundenen Wörtern einfallen musste.
Polly war nicht mehr die Große, die Lornas kleine Hände zwischen den eigenen gerubbelt hatte, die Große, die alles wusste, was Lorna nicht wusste, und auf die Verlass war, sie vor der Welt zu beschützen. Alles hatte sich umgekehrt, und es hatte den Anschein, dass Polly in den Jahren seit Lornas Heirat stillgestanden hatte. Lorna hatte sie überholt. Jetzt war es Lorna, deren Kinder auf dem Rücksitz ihre Liebe und Fürsorge beanspruchten, und es war unerhört von jemandem in Pollys Alter, daherzukommen und ihren Anteil daran einzufordern.
Es half Lorna nichts, das zu denken. Sobald sie ihre guten Gründe vorgebracht hatte, spürte sie den Körper gegen die Tür drücken, als sie hineinwollten. Das tote Gewicht, den grauen Körper. Den Körper von Polly, die überhaupt nichts bekommen hatte. Keinen Anteil an der Familie, die sie vorgefunden hatte, und keine Hoffnung auf die Veränderung in ihrem Leben, von der sie geträumt haben musste.
»Jetzt lies
Madeleine
«, sagte Elizabeth.
»Ich glaube,
Madeleine
hab ich nicht mitgenommen«, sagte
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