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Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Titel: Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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bitte entschuldigen Sie die Störung«, sagte sie. »Aber ich habe ihm ein Buch geliehen, es ist ein Buch aus der Stadtbücherei, das ich dringend zurückgeben muss, und ich dachte, vielleicht kann ich mal eben in seine Wohnung rauf und nachsehen, ob ich es finde.«
    Die Vermieterin sagte: »Ja, also.« Sie war eine alte Frau mit einem Kopftuch und großen dunklen Flecken im Gesicht.
    »Mein Mann und ich, wir sind Freunde von Lionel. Mein Mann war auf dem College sein Professor.«
    Das Wort »Professor« war immer nützlich. Lorna erhielt den Schlüssel. Sie stellte den Kinderwagen im Schatten des Hauses ab und schärfte Elizabeth ein, dazubleiben und auf Daniel aufzupassen.
    »Das ist gar kein Spielplatz«, sagte Elizabeth.
    »Ich muss nur kurz nach oben und bin gleich wieder da. Nur eine Minute, ja?«
    Lionels Zimmer hatte am Ende eine Nische für einen zweiflammigen Gaskocher und einen Küchenschrank. Kein Kühlschrank und kein Waschbecken, bis auf das in der Toilette. Am Fenster eine Jalousie, die halb herunterhing, auf dem Fußboden ein Stück Linoleum, dessen Muster von brauner Farbe verdeckt wurde. Es roch ein wenig nach dem Gaskocher, außerdem nach ungelüfteter Winterkleidung, nach Schweiß und einem Nasenspray mit Tannenduft, eine Mischung, die sie – ohne weiter daran zu denken und auch keineswegs unangenehm davon berührt – als Lionels eigenen Geruch hinnahm.
    Darüber hinaus verriet das Zimmer so gut wie nichts. Sie war natürlich nicht wegen eines ausgeliehenen Buches hergekommen, sondern um für einen Moment in dem Raum zu sein, in dem er lebte, seine Luft zu atmen, aus seinem Fenster zu schauen. Die Sicht ging auf andere Häuser am waldigen Hang des Grouse Mountain, die wahrscheinlich ebenso wie dieses hier in kleine Wohneinheiten zerstückelt waren. Die Kahlheit, die Anonymität des Zimmers stellten eine harte Probe dar. Bett, Kommode, Tisch, Stuhl. Lediglich das Notwendigste, damit das Zimmer als möbliert angeboten werden konnte. Sogar die Tagesdecke aus gelbbrauner Chenille musste schon da gewesen sein, als er einzog. Keine Bilder, nicht mal ein Kalender, und zur größten Überraschung keine Bücher.
    Irgendwo musste etwas versteckt sein. In den Schubladen der Kommode? Sie konnte nicht nachsehen. Nicht nur, weil ihr keine Zeit dafür blieb – sie hörte Elizabeth unten schon nach ihr rufen –, sondern weil sie gerade durch das Fehlen aller persönlichen Dinge Lionel stärker zu spüren meinte. Nicht nur seine karge Lebensweise und seine Geheimnisse, sondern gleichsam seinen Blick – fast, als hätte er ihr eine Falle gestellt und wartete nun ab, was sie tun würde.
    Eigentlich wollte sie gar nichts mehr erkunden, sondern sich nur noch auf den Fußboden setzen, mitten auf das Stück Linoleum. Stundenlang dasitzen und nicht so sehr dieses Zimmer betrachten, als vielmehr darin versinken. In diesem Zimmer bleiben, in dem es niemanden gab, der sie kannte oder irgendetwas von ihr wollte. Lange, lange Zeit bleiben, feiner und leichter werden, fein wie eine Nadel.
     
    Am Samstagmorgen sollten Lorna und Brendan und die Kinder nach Penticton fahren. Ein Diplomand hatte sie zu seiner Hochzeit eingeladen. Es war geplant, dass sie Samstag und den ganzen Sonntag über blieben und erst am Montag wieder nach Hause fuhren.
    »Hast du es ihr gesagt?«, fragte Brendan.
    »Schon gut. Sie erwartet nicht, dass wir sie mitnehmen.«
    »Hast du es ihr
wirklich gesagt?«
    Der Donnerstag wurde am Ambleside Beach verbracht. Lorna und Polly und die Kinder fuhren mit dem Bus hin und mussten zweimal umsteigen, beladen mit Handtüchern, Strandspielzeug, Windeln, Mittagbrot und Elizabeths aufblasbarem Delphin. Die Widrigkeiten, mit denen sie zu kämpfen hatten, und der gereizte Unmut, den ihr Anblick bei anderen Fahrgästen hervorrief, führten zu einer typisch weiblichen Reaktion – einer Stimmung nahe der Ausgelassenheit. Aus dem Haus fortzugelangen, in dem Lorna als Ehefrau festsaß, war ebenfalls hilfreich. Sie erreichten den Strand im Triumph und in wüster Auflösung und schlugen ihr Lager auf, von dem aus sie abwechselnd ins Wasser gingen, auf die Kinder aufpassten, Brause und Eis und Fritten holten.
    Lorna hatte schon etwas Farbe, Polly überhaupt noch nicht. Sie streckte ein Bein neben Lornas aus und sagte: »Schau dir das an. Mehlteig.«
    Bei ihren vielen Pflichten in beiden Häusern und bei ihrer Arbeit in der Bank blieb ihr keine freie Viertelstunde, um sich in die Sonne zu setzen. Aber sie sprach

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