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Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Titel: Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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zwei Liegestühle herumgedreht, damit sie im Schatten sitzen konnten, mit dem Rücken zur Aussicht.
    Lionel. Sie hatte ihn völlig vergessen.
    Er sprang auf, um die Hintertür zu öffnen.
    »Alle Teilnehmer der Expedition sind wohlbehalten heimgekehrt«, sagte er mit einer Stimme, die Lorna noch nie gehört hatte. Eine ungezwungene Herzlichkeit lag darin, eine unbefangene und lautere Vertraulichkeit. Die Stimme eines Freundes der Familie. Als er die Tür aufhielt, sah er ihr direkt ins Gesicht – etwas, das er fast noch nie getan hatte – und schenkte ihr ein Lächeln, aus dem alle Untergründigkeit, Heimlichkeit, ironische Komplizenschaft und verborgene Verehrung verschwunden waren.
    Sie machte ihre Stimme zu einem Echo der seinen.
    »Und – seit wann sind Sie zurück?«
    »Seit Samstag«, sagte er. »Ich hatte vergessen, dass Sie wegfahren wollten. Ich habe mich hier heraufgequält, um Guten Tag zu sagen, und Sie waren gar nicht da, aber Polly war da und hat es mir natürlich gesagt, und dann ist es mir wieder eingefallen.«
    »Polly hat Ihnen was gesagt?«, fragte Polly im Näherkommen. Das war keine richtige Frage, sondern die sanft stichelnde Bemerkung einer Frau, die weiß, dass fast alles, was sie sagt, Beifall finden wird. Pollys Sonnenbrand auf Stirn und Hals war zu Bräune geworden oder zumindest zu frischer Röte.
    »Gib her«, sagte sie zu Lorna und nahm ihr die beiden Taschen ab, die an ihrem Arm hingen, und die leere Saftflasche, die sie in der Hand hielt. »Ich nehme alles, nur nicht das Baby.«
    Lionels weiches Haar war jetzt eher bräunlichschwarz als schwarz – natürlich sah sie ihn zum ersten Mal in vollem Sonnenlicht –, und er hatte auch Farbe bekommen, jedenfalls so viel, dass seine Stirn ihren bleichen Glanz verloren hatte. Er trug die übliche dunkle Hose, aber sein Hemd kannte sie noch nicht. Ein gelbes Hemd mit kurzen Ärmeln aus oft gebügeltem, glänzendem, billigen Stoff, um die Schultern zu weit, vielleicht auf einem Kirchenbasar erstanden.
     
    Lorna trug Daniel in sein Zimmer hinauf. Sie legte ihn in sein Bettchen, blieb daneben stehen, machte sanfte Geräusche und streichelte seinen Rücken.
    Sie dachte, dass Lionel sie offenbar für ihren Fehler, in sein Zimmer gegangen zu sein, bestrafte. Die Vermieterin hatte es ihm bestimmt gesagt. Lorna hätte damit rechnen müssen, wenn sie nachgedacht hätte. Aber sie hatte nicht nachgedacht, wahrscheinlich weil sie meinte, es sei unwichtig. Vielleicht dachte sie sogar, sie würde es ihm selbst sagen.
    Ich bin auf dem Weg zum Spielplatz vorbeigekommen und habe einfach gedacht, ich gehe hinein und setze mich mitten auf den Fußboden. Ich kann’s nicht erklären. Es kam mir wie etwas vor, das mir einen Augenblick Ruhe verschaffen würde, in Ihrem Zimmer zu sein und mitten auf dem Fußboden zu sitzen.
    Sie hatte – nach dem Brief? – gedacht, dass es ein Band zwischen ihnen gab, das nicht offen gelegt zu werden brauchte, auf das aber Verlass war. Und sie hatte sich geirrt, sie hatte ihn erschreckt. Zu viel vorausgesetzt. Er hatte sich abgewandt, und da war Polly. Wegen Lornas Vergehen hatte er sich mit Polly eingelassen.
    Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht hatte er sich einfach verändert. Sie dachte an die außergewöhnliche Kahlheit seines Zimmers, an das Licht auf den Wänden. Daraus konnten solche veränderten Spielarten seines Ichs hervorgehen, mühelos erschaffen im Zeitraum eines Lidschlags. Das konnte eine Reaktion darauf sein, dass etwas ein bisschen schief gegangen war, oder aus der Erkenntnis kommen, dass er etwas nicht durchführen konnte. Vielleicht war auch gar kein bestimmter Anlass dafür notwendig – ein Lidschlag genügte.
    Als Daniel fest eingeschlafen war, ging sie hinunter. Im Badezimmer stellte sie fest, dass Polly die Windeln ordentlich ausgewaschen und in den Eimer mit der blauen Lösung zum Desinfizieren gelegt hatte. Sie nahm den Koffer, der mitten in der Küche stand, trug ihn nach oben, legte ihn auf das große Bett und klappte ihn auf, um auszusortieren, was gewaschen werden musste und was weggelegt werden konnte.
    Das Fenster dieses Zimmers ging auf den Garten hinterm Haus. Sie hörte Stimmen – Elizabeths laut, fast kreischend von der Aufregung des Nachhausekommens und vielleicht von der Anstrengung, ein größeres Publikum fesseln zu müssen, Brendans gebieterisch, aber angenehm, von der Reise berichtend.
    Sie ging ans Fenster und sah hinunter. Sie sah Brendan zum Schuppen gehen, ihn

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