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Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Titel: Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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jetzt sachlich, ohne ihren Unterton von Tugendhaftigkeit und Anklage. Ein säuerlicher Geruch, der sie umgeben hatte wie alte Spüllappen, fiel von ihr ab. Sie hatte sich in Vancouver ganz allein zurechtgefunden – zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie das in einer Großstadt getan. Sie hatte an Bushaltestellen Fremde angesprochen und sich nach den Sehenswürdigkeiten erkundigt und hatte auf jemandes Rat hin den Sessellift zum Gipfel vom Grouse Mountain genommen.
    Als sie im Sand lagen, versuchte Lorna es mit einer Erklärung.
    »Das ist für Brendan eine schlimme Zeit im Jahr. Die Sommerkurse sind wirklich nervenaufreibend, so viel Stoff in so kurzer Zeit.«
    Polly sagte: »Ja? Es liegt also nicht nur an mir?«
    »Sei nicht blöd. Natürlich liegt es nicht an dir.«
    »Na, da bin ich erleichtert. Ich dachte, er kann mich nicht ausstehen.«
    Dann sprach sie von einem Mann zu Hause, der mit ihr ausgehen wollte.
    »Er meint es zu ernst. Er sucht eine Frau zum Heiraten. Das hat Brendan damals wahrscheinlich auch getan, aber ich nehme an, du warst in ihn verliebt.«
    »Ja, und das bin ich noch«, sagte Lorna.
    »Also ich bin’s, glaube ich, nicht.« Polly sprach mit dem Gesicht im Ellbogen. »Aber vielleicht geht es ja doch, wenn man jemanden genug mag und mit ihm ausgeht und sich entschließt, die Vorteile zu sehen.«
    »Und was sind die Vorteile?« Lorna setzte sich auf, damit sie Elizabeth auf ihrem Delphin im Auge behalten konnte.
    »Gib mir Zeit zum Überlegen«, sagte Polly kichernd. »Nein. Es gibt viele. Ich bin nur boshaft.«
    Als sie die Spielsachen und die Handtücher einsammelten, sagte sie: »Ich hätte überhaupt nichts dagegen, das morgen wieder zu tun.«
    »Ich auch nicht«, sagte Lorna, »aber ich muss alles vorbereiten für die Fahrt zum Okanagan Lake. Wir sind da zu einer Hochzeit eingeladen.« Sie ließ es klingen wie eine lästige Pflicht – etwas, worüber sie bisher nicht gesprochen hatte, weil es zu unangenehm und langweilig war.
    Polly sagte: »Ach. Na, dann könnte ich ja alleine herkommen.«
    »Klar. Solltest du machen.«
    »Wo ist der Okanagan Lake?«
     
    Als Lorna am nächsten Abend die Kinder zu Bett gebracht hatte, ging sie in das Zimmer, in dem Polly schlief. Sie ging hinein, um einen Koffer aus dem Schrank zu holen, weil sie dachte, das Zimmer sei leer – sie vermutete Polly noch in der Wanne, wo sie ihren Sonnenbrand in lauwarmem Wasser mit Soda badete.
    Aber Polly lag im Bett und hatte sich in die Decke eingemummelt wie in ein Leichentuch.
    »Du bist schon aus dem Bad raus«, sagte Lorna, als fände sie das alles ganz normal. »Wie geht es deinem Sonnenbrand?«
    »Ganz gut«, sagte Polly mit erstickter Stimme. Lorna wusste sofort, dass sie geweint hatte und wahrscheinlich immer noch weinte. Sie stand am Fuß des Bettes, unfähig, das Zimmer zu verlassen. Enttäuschung befiel sie, die wie Übelkeit war, eine Welle des Abscheus. Polly wollte sich eigentlich nicht verstecken, sie drehte sich um und sah hervor, das Gesicht ganz verknittert und hilflos, rot von der Sonne und vom Weinen. Frische Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie war ein Häufchen Elend, eine einzige Anklage.
    »Was hast du denn?«, fragte Lorna. Sie täuschte Überraschung vor, sie täuschte Mitleid vor.
    »Du willst mich nicht haben.«
    Ihre Augen hingen die ganze Zeit an Lorna, flossen über nicht nur von ihren Tränen, ihrer Verbitterung und dem Vorwurf des Verrats, sondern auch von ihrer ungeheuerlichen Forderung, in die Arme genommen und getröstet zu werden.
    Lorna hätte sie am liebsten geohrfeigt. Was gibt dir das Recht, wollte sie sagen. Was hängst du dich an mich wie eine Klette? Was gibt dir das Recht?
    Familienbande. Familienbande geben Polly das Recht. Sie hat Geld gespart und ihre Flucht geplant, in dem Glauben, dass Lorna sie schon aufnehmen wird. Stimmt das – hat sie davon geträumt, hier zu bleiben und nie zurückkehren zu müssen? Teil von Lornas Glück, Lornas gewandelter Welt zu werden?
    »Was meinst du denn, was ich machen kann?«, fragte Lorna ziemlich böse und zu ihrer eigenen Überraschung. »Meinst du, ich habe irgendwelchen Einfluss? Er gibt mir nie mehr als jeweils einen Zwanzig-Dollar-Schein.«
    Sie zerrte den Koffer aus dem Zimmer.
    Es war alles so falsch und widerwärtig – derart ihr eigenes Klagelied anzustimmen, um mit Polly zu wetteifern. Was sollte das überhaupt mit den zwanzig Dollar? Sie hatte ein Kundenkreditkonto, und er schlug ihr nie eine Bitte ab.
    Sie konnte

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