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Himmelreich

Himmelreich

Titel: Himmelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rolf Dobelli
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einer ersten Einschätzung ihrer finanziellen Potenz, möglichst dezent auf den Geschmack zu bringen, ihre Vermögen bei uns zu parken zwecks Vermehrung. Doch dann, noch am selben Tag des Aufsichtsratsbeschlusses, die Erleuchtung, daß gerade diese Versetzung mich aus der unheilvollen Verstrickung befreien, mich aus dem scheußlichen Irrsinn dieses Abenteuers mit Josephine herausreißen würde. New York, das wäre Lösung, Flucht und Ehrgeiz zugleich, es wäre der Rettungsanker meiner Ehe, meines Rufs und meiner Karriere, es wäre der entscheidende Schritt hin zu jenem beispiellos perfekten Banker und Geschäftsmann, der ich vor nicht allzu langer Zeit gewesen bin. Deswegen habe ich zugesagt.
    Plötzlich Stau. Stoßstange an Stoßstange. Kriechen im Schrittempo. Links und rechts die Ebene des Valle del Ebro, Oberfläche wie Mars - ziegelrot. Vereinzelte Bäume, Eukalyptus, nie Wälder. Ab und zu eine Staubstraße in der Distanz. Landschaft, die mich an Arizona oder New Mexico erinnert, nur daß die Kakteen fehlen, dafür gibt's Ruinen, Kirchen oder einfache Steinhäuser, Ställe, seit Jahrhunderten erbärmlich in sich zusammengefallen, Ruinen, in deren Gemäuer Sträucher sitzen, manchmal ein Baum. Die Leitplanken blitzen im Sonnenlicht. Das Geflimmer auf den frischen Spurenmarkierungen. Luft wie flüssiges Glas. Stau in einer Landschaft, die niemand sehen würde ohne diesen Stau.
    »Du, die machen Personenkontrolle.« Zu sehen, weit vorne: das Zucken von Blaulicht. Fünf, sechs Streifenwagen der Guardia Civil kreuz und quer über die Fahrbahn verteilt. Als wir näher kommen, fällt uns auf, daß sie jeden VW-Bus zur Seite winken, drei oder vier rote VW-Busse stehen schon herum. Auch ein schwarzer BMW. Ebenfalls zugegen: Renfer. Wir sind überrascht, ihn nach mehr als einer Woche wieder anzutreffen. Tatsächlich, er steht da, etwas abseits, stark wie ein Findling, mit Krawatte und hochgekrempelten Ärmeln, die ganze Belagerung wie ein Heeresführer überwachend. Ab und zu wischt er sich den Schweiß von der Stirn, nicht gewohnt, Dienst unter ausländischen Klimabedingungen zu tun. Zum Glück, denke ich, fährt Josephine, die in der Bankfiliale des Heiligen Geistes nicht gefilmt worden war. Ich verkrieche mich nach hinten unter die Bücher und mache mich kleiner als ein Käfer. Ich spüre, wie unser Wagen sich verlangsamt und Josephine das Fenster herunterkurbelt. Das Brummen von Lastwagen auf der anderen Straßenseite, zwischendurch das Knacksen und Rauschen aus einem Funkgerät. Mein Kopf unter einem Dutzend Ulysses-Ausgaben. Eine höchst unbequeme Umgebung, diese Bücher mit ihren Ecken und Kanten - wenn es wenigstens leichtere gewesen wären, Soft Cover, aber nicht gerade Backsteine! Dazu die Nylontasche zwischen den Knien. Das Zucken von Blaulicht, das wie ein Pinsel über die Szenerie fährt. Ich versuche, nicht zu atmen, sondern in Gedanken die Zeit zu beschleunigen. Ich denke an die Peinlichkeit, ja den Wahnwitz, wenn diese Fahrt ins Blaue jetzt auffliegen würde - ein hochrangiger Banker, Anwärter auf den Konzernleitungssitz, Shooting Star der Schweizer Wirtschaft, Ehrenmitglied des Harvard-Clubs, verheiratet mit einer zwei Jahre jüngeren, aber nicht minder erfolgreichen Rechtsanwältin, ein Mann, der mit einer entzückenden jungen Dame auf einer Frühlingsreise quer durch Europa erwischt wird und nebenbei eine Entführung vortäuscht, VW-Busse klaut und Lösegelder erpreßt. Keine Frage: Es hätte schlichtweg mein Ende bedeutet.
    Eine Weile lang Stille.
    Ich denke: Wenn sie jetzt die Autopapiere verlangen, fliegt alles auf.
    »Vaya, vaya!« ruft eine männliche Stimme, ich höre es, ein Satz wie ein Freispruch, »vaya!«, und erst als Josephine beschleunigt, der Motor aufheult und sie sich dabei gehörig verschaltet, weiß ich, daß der Freispruch uns gegolten hat. Offenbar hat man uns dank Jeep Cherokee und vor allem dank spanischem Kennzeichen einfach durchgewinkt. Ich strecke meinen Kopf zwischen den Büchern hervor, ganz langsam, so wie Bäume zwischen den Ruinen hindurchwachsen. Durch die Rückscheiben zu sehen: Renfer, wie er zusammenschrumpft, bis man ihn mit dem Daumen abdecken kann.
    Berauscht von soviel Ausnahme, schmiege ich meine Arme von hinten um Josephines Hals, ja beiße sie in den Hals wie ein übermütiger Hund. Der Duft ihres Haars. Ich küsse sie links und rechts um die Kopfstütze herum. Ich küsse sie, bis sie auf der Fahrbahn schlenkert, bis sie sagt: »Ich muß mich konzentrieren.«

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