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Himmelreich

Himmelreich

Titel: Himmelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rolf Dobelli
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weil es mir nicht einfällt, anderswohin zu schauen.
    Plötzlich wird die Dame ganz still.
    »Quanto?«
    Keine Ahnung. »Todo«, sage ich.
    Ob ich sicher sei?
    Ja, ja, »estoy seguro«.
    Ihr Gesicht, als hätte sie aufgehört zu atmen. Dann steht sie auf, nein, eigentlich erhebt sie sich nicht, sondern rutscht seitwärts, als würde es sie unendlich schmerzen, über die Kante ihres Stuhls, dann, allmählich, beginnt sie, sich rückwärts zu bewegen, behutsam, lautlos, wie eine Schachfigur, die von einem unsichtbaren Finger geradlinig über das Brett geschoben wird, ihr Blick weiterhin auf meinen Händen, auf meinem Oberkörper, auf meinem Gesicht und vor allem auf der Tasche, die ich mitgebracht habe und die jetzt in meinen Händen wartet, einer schwarzen Nylontasche - ich komme mir vor wie eine Bombe, die jederzeit hochgehen könnte.
    Nach ein paar Minuten, die mir wie eine halbe Ewigkeit vorkommen, ist sie wieder da, mitsamt Filialleiter, einem dürren Mittvierziger, dessen einzige Auffälligkeit in seiner bleistiftdünnen und schreiend unmodischen Krawattennadel liegt, der mich weder anspricht noch anblickt. Auch dieser untersucht meine Identität durch ausgiebiges Befühlen des Passes. Auf sein Nicken hin zählt sie aus und schiebt die Bündel Euro - ein ganzer, flotter Hügel - zusammen mit meinem Paß unter dem Panzerglas durch. In einem Bürofenster hinter ihr bemerke ich, wie Fingerspitzen einzelne Storeblätter hochdehnen.
    Ich will schon hinausrennen, da ruft sie »Espera!«, ich müsse noch unterschreiben.
    Ich unterschreibe pflichtgetreu und stürze hinaus.
    Time to Destination: 3 Hours 10 Minutes.
    Wenn der Sitznachbar sich glänzend mit der Stewardess unterhält, stört es mich nicht wirklich. Sie plaudern in gedämpftem Ton. Selbst wenn sie lachen, nehmen sie Rücksicht auf die Passagiere. Teilweise schlafen die ja. Oder sie arbeiten oder denken, so wie ich. Was mich stört, ist nicht das Gequassel, auch nicht die Lacher. Was mich stört, ist meine plötzliche Eifersucht auf den Sitznachbarn.
    Ich frage mich: Wie viele Flight Attendants kehren täglich als schwangere Frauen von ihren Einsätzen zurück?
    »Sie trinken zu wenig«, meint mein Sitznachbar, er hat entdeckt, daß ich nicht schlafe, sondern denke, zumindest schaue ich zum Fenster hinaus oder starre auf den Monitor, ich weiß es selbst nicht, vielleicht hab ich auch gemurmelt, jedenfalls nimmt er's als Einverständnis, mich der Stewardess vorzustellen, die seit einiger Zeit lässig auf seiner Armlehne hockt, vorsichtig darauf bedacht, den Blickkontakt zu seinen gletscherblauen Leuchten aufrechtzuerhalten. Eine unnötige Geste, finde ich, diese Vorstellung, und bestelle noch etwas Merlot, einfach um das Mädchen loszuwerden.
    Keine Ahnung, warum er mir noch immer auf die Nerven geht.
    Seine junge Haut. Die Spannung in seiner Haut. Seine Babyhaut am Hals, wo keine Bartstoppeln wachsen. Dazu sein braunes Skifahrergesicht.
    Jetzt blättert er wieder in seinem Fliegerhandbuch: Flight Operations Procedures, Section IC. Keine Ahnung, warum mich das plötzlich interessiert.
    Seine Pilotenbrille, die er, auch jetzt als Passagier, lässig in der Hemdtasche eingehängt hat. Überhaupt seine Brillenlosigkeit.
    Jetzt kommt die Stewardess mit dem südafrikanischen Merlot, der nicht zu trinken ist, und so bestelle ich dazu Salzstengel, um sie noch einmal loszuschicken.
    Ich klappe meine Lesebrille (Cardin) zusammen, die ich nur selten wirklich brauche, und beobachte die Wolken, die es immer gibt, diese grauweißen, manchmal grünlichweißen Schwaden. Ich frage mich, wie es den Wolken in den Sinn kommt, aus einer unendlichen Menge möglicher Formen genau diese anzunehmen - zerrissene bauschige Teppiche.
    Sein Gesicht.
    Sein Jugendglanz.
    Sein idiotisches jugendliches Strahlen, selbst wenn ich meine Augen geschlossen halte.
    Ich mache mir nichts aus einer Million. Ich habe es täglich mit Millionen zu tun - unsere Bank erwirtschaftet bei einer Bilanzsumme von achtzig Milliarden einen Reingewinn von 600 Millionen, davon kommt die Hälfte aus dem Private Banking, also aus meiner Sparte. Eine Million mehr oder weniger spielt in unserem Geschäft keine Rolle. Ich behaupte sogar, man könnte eine Million verschwinden lassen, ohne daß irgend jemand davon Notiz nähme. Eine Million ist, im Banking, ein lächerlicher Betrag. Was fühle ich, wenn meine Hände in einer Tasche voller Hunderternoten wühlen - zehntausend an der Zahl? Ich spüre Papierfetzen, hartes,

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