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Himmelreich

Himmelreich

Titel: Himmelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rolf Dobelli
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Dann krieche ich zwischen den Sitzen nach vorne, lege mich rücklings auf meinen Sitz, lege meinen Kopf in ihren Schoß, meine Füße baumeln zum offenen Fenster hinaus, mit den Händen umfasse ich ihren Oberkörper. So liege ich da, quer zur Fahrtrichtung. Ihr Gesicht von unten, ihr Pullover und damit ihre Brüste, das Lenkrad, alles von unten betrachtet, ihr Kinn, ihre Nasenflügel, die Härchen in den Nasenflügeln, die ich zum ersten Mal sehe, wieder ihre Brüste - mit jedem Gangschalten federn die Tennisbälle unter dem Stoff ihres Pullovers. Jenseits der Windschutzscheibe Himmel, nur Himmel, Schleierwolken, viel Blau. Ich wippe mit meinen Unterschenkeln im Takt der Musik, klopfe mit den Fersen von außen an die Autotür. Meine Waden im Fahrtwind, das Flattern meiner Hosenbeine. Es kommt mir vor, als würde sie eine Mondkapsel steuern, so konzentriert wie sie dasitzt. Ich hätte schreien können vor Glück. Dabei finde ich mich nicht einmal unmöglich, etwas fremd, das schon, aber nicht unmöglich, ich muß mich kneifen, ich muß mir in die Lippen beißen zum Beweis, daß ich es bin, ganz und gar ich, der hier wie ein aufgedrehter Welpe quer auf ihrem Schoß liegt. Wenn, sagen wir, die Liebe eine fatale Illusion wäre, eine gnadenlose Täuschung, so würde sie doch nie echter und herrlicher sein als in diesem Moment. Mein Entschluß, der Bank endgültig den Rücken zu kehren. Zwanzig Jahre Banking, davon fünfzehn Jahre bei derselben Firma, dieselben Gesichter tagein, tagaus, dieselben Probleme, eine Akquisition hier, eine Auslagerung da, Mitarbeiter instruieren, Mitarbeiter kontrollieren, Mitarbeiter loben, Mitarbeiter tadeln, Mitarbeiter einstellen, Mitarbeiter entlassen - alles wie Atmung, automatische, flache, bronchitische Atmung, Spirale der Stumpfheit, unbewußt und im eigentlichen Sinn gleichgültig, so wie man Zähne putzt und dabei ganz anderes denkt. Das alles kommt mir jetzt wie ein spektakulärer Irrtum vor: Verschwendung von Lebenszeit. Und all die Gedanken, die polierten Aufsichtsratssitzungen, die überschwenglichen Freundlichkeiten und Kollegialitäten, die komplizierten Strategien, die ausgeklügelten Kontroll- und Überwachungs- und Motivationssysteme, überhaupt die Bändigung der menschlichen Impulse, Begierden und Roheiten, all dies scheint mir auf einmal in eine augenscheinliche Einfachheit oder Schalheit eingewickelt. Die Arbeit ist der Kerker des Minos! Und statt Wachs und Flügel kriegt man eine Schaufel in die Hand gedrückt, mit der man sein eigenes Grab aushebt. Ich spüre das Stampfen des Motors durch Josephines Schenkel hindurch und fühle ihren warmen, flüssigen Puls, ich rieche den Verkehr und gleichzeitig den Wohlgeruch ihrer Haut, ich spüre das Zerren des Fahrtwindes an meinen Unterschenkeln und ihren heißen Atem, der über meinen Arm streicht. Ich bin ein Wirbel des Universums, keine Galaxie, keine Sonne, nicht einmal ein Planet, aber ein kleiner Wirbel, bei dem tausend verschieden gezwirnte Fäden zusammenfließen. Am liebsten hätte ich mich in Josephine hineingefressen. Ich bin selig, lebendig, zum ersten Mal, verliebt, meinetwegen, entflammt, gefesselt von dieser Frau, aber vor allem lebendig. Wunsch, nackt durch die Savanne zu laufen. Wunsch, sich in einem Meer von Rosenblättern zu wälzen. Wunsch, bis auf die Seele abzubrennen. Das Gefühl, vorhanden zu sein, jetzt, da, im Augenblick zu sein, nein, mehr als ein Gefühl, eine Erweckung, eine Inspiration, dabei über eine einfache Gegenwart hinaus erhaben, tausendmal mehr als Gegenwart -Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, alles in einem Brennpunkt konzentriert, und dieser Brennpunkt bin ich.
    Time to Destination: 2 Hours 54 Minutes.
    Flughöhe: 33 000 Fuß.
    Mein Sitznachbar klärt mich auf: Praktisch fliegen wir eine Isobare entlang, es können also mehr als 33 000 Fuß über Meer sein oder weniger. Wenn wir in ein Hochdruckgebiet fliegen, weniger; wenn wir in ein Tiefdruckgebiet fliegen, mehr. Wir schlingern auf und ab. Und weil der gesamte Flugverkehr auf gleicher Weise auf und ab schlingert, kommt es zu sehr wenigen Zusammenstößen.
    Noch dreimal höher, und man könnte die Rundung der Erde erahnen.
    Noch zehnmal höher, und man würde nie mehr abstürzen können. Ich zusammen mit dreihundert Menschen in einer Raumstation, die wie ein Flugzeug aussieht. Jetzt weiß ich, was mich an Satelliten stört: ihre Unförmigkeit. Der letzte schöne Satellit war gleichzeitig der erste: Sputnik. Eine silbrige Kugel mit vier

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