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Himmelreich

Himmelreich

Titel: Himmelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rolf Dobelli
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Anna. Doch dann, aus einer kindlichen Ungezogenheit heraus, juckt es mich, zu wissen, wieviel ich wert bin, es kitzelt mich, zu wissen, wie die Welt auf unsere Bodenlosigkeit reagiert hat, ja es zerrt mich geradezu in die nächste Bankfiliale hinein. Also nehmen wir wieder irgendeine Ausfahrt. La Tudela. Ein verwinkeltes Kaff in der westlichen Ebro-Ebene. Wir müssen dreimal nach dem Weg fragen, aber dann finden wir sie: Banco Espirito Santo. Josephine wartet wie abgemacht mit laufendem Motor um die Ecke. Die Rauchglastür öffnet und schließt mit einem hellen Klingelton.
    Vor mir ein Greis.
    Der säuerliche Duft, der von seinem Körper ausgeht.
    Ich bemühe mich, nicht aufzufallen. Keine Zeitung, hinter der ich mich hätte verstecken können, keine Brille zur Tarnung; ich hänge die Daumen in den Gürtel ein und trommle mit den Fingerspitzen an den Hosenbund - mein Versuch, Langeweile vorzutäuschen.
    Ich sehe den von Leberflecken befallenen Schädel. Ich sehe graue Stacheln, die unregelmäßig der Kopfhaut entspringen. Die Ohren viel zu groß. Geisterhaft. Seine Hand, die den Kugelschreiber hält, eigentlich keine Hand, sondern großzügig geschnittene Echsenhaut. Ein Nervenzucken, das genau der Linie von der Schlüsselbeinhöhle zum Ohr folgt, ein rebellisches Reißen von Stricken entlang der Halsschlagader.
    Der Greis versteht sie nicht, die Formulare, oder er sieht sie nicht durch seine Brillengläser hindurch, jedenfalls beginnt die Schalterangestellte, ihm den Kram auszufüllen. Ab und zu muß er unterschreiben, das kann sie ihm nicht abnehmen, er versucht's mit zittriger Hand, aber er setzt die Unterschrift in ein falsches Feld. Jetzt muß sie mit dem Ausfüllen von vorne beginnen. Ich stehe da und blättere in meinem Paß und beobachte den Alten, der mit jedem Atemzug ein wenig zu sterben scheint.
    Einmal dreht er sich, um etwas aus seiner Brieftasche zu nehmen. Jetzt von der Seite: die Leberflecken, die sein Gesicht schleichend erobert haben. Die Ansammlung von Haut unter dem Kinn. Die feinen, grauen Härchen im Ohr. Die Härchen an den Backen, die sein Rasiermesser schon seit Jahren nicht mehr erreicht hat.
    Die Kameras an der Decke sind nicht zu übersehen, und die aufgereihten Halogenlämpchen an den quer über die Decke gespannten Drähten scheinen ihr Licht absichtlich auf mich zu werfen. Wie spielt man eine Geisel in der Absenz ihrer Geiselnehmer? Würde nicht erwartet, daß ich versteckte Zeichen gäbe, Handzeichen, während ich warte, eine Art Fingeralphabet oder zumindest ein in die Luft gezeichnetes Herz für meine Frau? Warum habe ich keinen Zettel parat, den ich heimlich unter dem Schalterglas hindurchschieben könnte mit Hinweisen - Tatmotiv, Identität der Entführer, Beschreibung - für die Fahndung?
    Ich sehe, wie der Alte seine müden Glieder zusammentrommelt und diese versprengten, zerlumpten, abgekämpften Soldaten noch ein letztes Mal zum Aufmarsch nötigt. Die überstandenen Launen, der über Jahrzehnte gefochtene Kampf gegen das Chaos, die Wunden - all dies trägt er wie eine alte Fahne mit sich herum. Ich stelle mir vor, wie oft er vor der Frage stand, aufzugeben - im Krieg, in der Liebe, im Job, im Glauben -, und immer wieder hat er es gepackt, immer wieder hat er sich einen Ruck gegeben. Und all das hat ihn hierher gebracht. An diesen Schalter. Zu diesem Kampf mit den Formularen.
    Als er sich umdreht, um die Bank zu verlassen, und als ich mich anschicke, zum Schalter zu schreiten, berühren wir uns beinahe. Sein Kopf jetzt groß. Groß der Mund. Jung sind einzig die Lippen, feucht und glänzend und rosa. Zähne wie ein Bergwerk. Er schaut mich an, als ob er begriffen hätte, daß die letzten Reste einer alten Ordnung beiseite geschafft worden sind. Überall die kalten Falten einer abstoßenden Erschöpfung. Die Leiche, die er bereits mit sich herumschleppt. Der säuerliche Atem, der noch herumliegt, als er schon draußen ist.
    »Me quiero dinero.« Der Versuch, meiner Stimme einen Schwung von Selbstbewußtsein zu verpassen, scheitert. Ich muß schlucken, und es fühlt sich an, als schluckte ich Staub.
    »Passaporte, por favor«, befiehlt die Schalterangestellte.
    Ich schiebe meinen Paß unter dem Fensterchen hindurch.
    Das hastige Rascheln ihrer Finger, die ich nicht sehe, da hinter dem Computerbildschirm, aber höre: Sie tippen, und es klingt, als würde Sand über eine Tastatur gestreut. Ihr Beschäftigtsein gibt mir Zeit, sie genauer zu betrachten, ich tu's nur aus Verlegenheit,

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