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Himmelreich

Himmelreich

Titel: Himmelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rolf Dobelli
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ein Kranker vor. Mein Sitznachbar hantiert an seiner Uhr. Ich entscheide mich, erst nach der Landung auf Lokalzeit zu wechseln. Jetzt poliert er seine Schuhe mit einem kleinen schwarzen Schwämmchen, das er im Business-Class-Set zwischen Zahnbürste und Ohrstöpsel gefunden hat. Endlich Manhattan - jetzt nicht mehr auf dem Bildschirm, sondern wirklich. Eine graue Wolke aus Haarkristallen. Alles scharf umrandet von Wasser - East River, Hudson, Upper New York Bay - überhaupt das Wasser überall. Long Island wird immer dicker. Ab und zu ein Golfplatz, ein Geschlängel aus Rasenflächen. Time to Destination: 0 Hours 06 Minutes. Die Häuser am Strand jetzt einzeln. Ein viel zu weiter Strand. Autos wie Läuse in den Straßen und Querstraßen. Das Auskippen des Fahrgestells, das Surren des Elektromotors, das Einrasten der Stützbolzen, dann Geräusche wie bei einem Sturm. Ich stelle mir vor, wie die Reifen, die Stützbolzen und die Hydraulikschläuche jetzt durch die anschießende Luft pflügen. Rechts Brooklyn, dann die Spitze Manhattans, deutlich zu sehen, die Statue of Liberty, das Woolworth Building, weiter hinten das breitschultrige Met Life Building, das Empire State, das Durcheinander der Frachter im Hafen. Plötzlich geht alles sehr schnell, Eindrehen nach rechts, die Marshlands von Long Beach, die Sümpfe und Tümpel, die verlorenen Schienenstränge, das Gedränge der Giebelhäuser, eine Autobahn mit zwölf Spuren, wir sind beinahe so langsam wie die schnellsten Autos, das Schaukeln der Flügelspitzen auf den letzten hundert Metern, ein kurzer Schub der Triebwerke, ein Parkplatz, man könnte die tausend Autodächer mit bloßer Hand berühren, die Piste, die Smaragd-kette der grünen Lichter, die Landung, das Aufsetzen auf der Piste, Umkehrschub.
    Time to Destination: 0 Hours 00 Minutes.
    U.S. citizens to the left, all others to the right! u.s. citizens to the left, all others to the right!
    Die Halle, weit wie ein Fußballfeld, trägerlos, dafür mit Spannteppich, filzgrau, kalt, was am eisigen Schauer der Klimaanlage liegt. Warteschlangen überall. Neonlicht wie Puder. Schalter 1-14 für u.s. citizens. Schalter 15-45 für foreigners, Fremdlinge, wie sie es hier ausdrücklich nennen.
    Man hatte keine Zeit zu überlegen. Ein ganzer Airbus voller Menschen strömte in diesen Saal, und wenn dieser Airbus sich geleert hatte, kam schon der nächste. Ich stellte mich augenblicklich hinter den Juden, dank dem wir nicht abgestürzt waren. Seine Kippa glänzte schwarz wie das Fell einer Perserkatze, und ich hätte sie am liebsten gestreichelt. Links und rechts bekannte Gesichter aus der Business Class. Ein ganzer Saal voller Hinterköpfe. Weit vorne jener meines Sitznachbars; er hatte eine bessere Warteschlange erwischt. Es gab nichts zu sagen. Wir standen vor dem Mund des Landes. Rote Schweizerpässe weithin sichtbar. Ob Business Class oder Economy, ob reich oder arm, ob fünfzehntausend Mitarbeiter auf einen warten oder niemand, die Einwanderungsbehörde macht bewußt keinen Klassenunterschied. Weder Geld noch Herkunft spielen in diesem Land eine Rolle, zumindest nicht, bis man durch die Zollkontrolle hindurch ist. Kinder, die auf ihren Taschen hockten, erschöpft nach acht Stunden Flug, zu müde, um ihren Eltern auf die Nerven zu gehen, und Eltern, zu müde, um sich von ihren Kindern auf die Palme jagen zu lassen (ich war froh, keine Kinder zu haben). Ein Saal voller Erschöpfung. Man war jetzt bereit, alles zu erdulden. Nur ein Mädchen mit pelzigem Haar, das noch kaum aufrecht gehen konnte, wirbelte quer durch die Kolonnen. Kameras in der Decke, die versteckt sein wollten, halbdurchlässige Spiegel, hinter denen man hundert Augen vermutete. Ich las - eine Pricewaterhouse-Coopers Marktstudie zum Global Private Banking - und war erstaunt, daß alle anderen die Langeweile vorzogen. Ab und zu ging's einen Schritt vorwärts. Ich schaffte es, weiterzulesen, ohne je einen Satz zu unterbrechen, während ich Aktentasche und Trolley mit meinem Fuß vorwärts kickte.
    Anderthalb Stunden später saß ich im Taxi. Das Gebirge der Skyline und die Sonne, die in diese Skyline hineinfiel. New York. Die Erinnerung: vor zwanzig Jahren, mein erstes Jahr im Ausland. Es gab die schwülen Sommerabende, an denen ich nicht anders konnte, als langen, wohlgeformten, kräftigen Beinen nachzulaufen, Beinen, die durch ihre Strümpfe etwas vom muschelartigen Glanz des Hudson River hatten, Frauenbeine in der Perfektion industrieller Produkte,

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