Himmelreich
dich; daß seine Flügel mit hundert Augen übersät sind wie die Engel Kataloniens; daß jeder deiner Gedanken ein jämmerlicher Abklatsch eines viel größeren Gedankens sein könnte...«
Ihr gefällt die Geschichte nicht.
Einige Tage später (oder sind es Wochen? - ich habe wie gesagt die Kontrolle über die Zeit verloren): Land in Sicht. Ich schütte gerade einen Kübel Salzwasser über meinen Kopf, um die Seife aus meinem Haar zu spülen, Morgentoilette auf dem Bug, stehend, ich bin splitternackt, seit Wochen, ja Monaten kenne ich keinen anderen Zustand, man braucht mindestens fünf Kübel, bis die Seife wirklich weg ist. Ein Bleistiftstrich am Horizont, nichts weiter.
Josephine im Cockpit, Kopf an die Bordwand gelehnt, Beine von sich gestreckt, Blick in Richtung Sonnenaufgang, also in Richtung Vergangenheit. Ich verstehe nicht, wie man wochenlang in diesem Buch lesen kann, dieses Herumirren in Dublin, dabei liest sie nicht einmal richtig, sie blättert bloß darin, als wäre das Buch ein Setzkasten, mit dem man seine eigene Geschichte zusammenstellen kann, vielleicht döst sie auch, oder sie denkt nach, es ist unmöglich, dies vom Bug aus festzustellen. Ulysses liegt jedenfalls aufgeschlagen auf ihren Beinen. Jetzt also Land in Sicht, ein Strich, der mit jeder Stunde etwas dicker wird.
Land, das ist wie das Ende eines Traums. Land heißt: konkret werden, arbeitsam. Land ist handfest, Land ist da, vorhanden, unausweichlich. Land fordert einem Pläne ab. Land ist die Tyrannei des Tatsächlichen. Ich schleiche mich ins Cockpit unseres Schiffs und reiße das Steuer um 90 Grad herum und lasse das Segel weit ausfahren, um möglichst auf kein Land zu stoßen. Josephine noch immer dösend.
Time to Destination: 0 Hours 45 Minutes.
»Meine Damen und Herren, Ihr Maitre de Cabine, Ursula Stüssi. Wie Sie vom Kapitän gehört haben, haben wir den Sinkflug Richtung New York eingeleitet. Um die nötigen Zollformalitäten abschließen zu können, werden wir den Zollfrei- und Bar-Service in ca. fünf Minuten abschließen. Bitte beachten Sie, daß das Fasten-Seatbelt-Zeichen eingeschaltet ist. Bitte kehren Sie zu Ihren Sitzen zurück, und schnallen Sie sich an. Der Gang auf die Toilette ist ab sofort nicht mehr gestattet. Wir werden jetzt die Kopfhörer wieder einsammeln. Die Uhrzeit in New York beträgt 14 Uhr 20. Die Landung in 45 Minuten. Wir möchten uns bei dieser Gelegenheit nochmals für die entstandene Verspätung entschuldigen und bedanken uns, daß Sie Swissair geflogen sind.«
Jetzt hat es auch Josephine gemerkt: Land in Sicht. Josephine auf dem Bug, splitternackt, mit einer Hand hält sie sich am Mast fest. Sie sagt nichts, sie schaut bloß. Ich sehe sie nur von hinten. Ihre Wirbelsäule, die das Schaukeln des Bootes ausbalanciert. Ein Bleistiftstrich am Horizont, eine Inselkette, nehme ich an, denn der Bleistiftstrich ist immer wieder unterbrochen. Ein Morsealphabet, dieser Horizont. Weit vorne das Aufschäumen von Meer, ein feiner, weißer Strich, der sich ständig neu produziert. Bäume wie Filzhaar auf dem Land. Keine Ahnung, wo auf dem Globus wir uns befinden - Guadeloupe, Puerto Rico, Cuba, Bahamas. Es genügt Josephine, zu wissen, daß wir die Neue Welt erreicht haben. Sie verschwindet in der Kabine. Augenblicke später steht sie schon wieder auf Deck - in ihrem olivgrünen Frühlingsrock. Ihr Haar nach hinten gekämmt. Sie sieht hinreißend aus, verlockend, im ganzen Sinn unwiderstehlich, seit Monaten habe ich sie nicht mehr in Kleidern gesehen, ich habe vergessen, wie man in Kleidern aussieht. Das unregelmäßige Schaukeln, je mehr wir uns dem Land nähern. Der weiße, bauschige Strich jetzt wie Zahnpastaschaum. Wir segeln das Riff entlang, auf der Suche nach einer Stelle, wo wir es durchstechen können. Das Fernglas zeigt Palmen im flimmernden Licht des Nachmittags. Keine Spur von Zivilisation.
Nur Palmen und Sand und ein Hauch von hohen Gräsern manchmal, wo der Sand in Wald übergeht, und ich frage mich, ob es nicht sinnvoller wäre, weiterzusegeln, bis wenigstens eine Hütte oder ein Fischerdorf zu finden ist, aber Josephine ist entschlossen, zu landen, hier und jetzt. Schließlich landet man nicht zufällig an einem Ort, sondern das Schicksal hat diesen Ort für einen ausgesucht. Außer der Vernunft habe ich keine Gegenargumente.
Time to Destination: 0 Hours 30 Minutes.
»Beim Landeanflug versucht der Pilot auf dem Bildschirm die Striche, die die Anflugschneise markieren, mit den Strichen, die
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