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Himmelreich

Himmelreich

Titel: Himmelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rolf Dobelli
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Grad.
    Draußen der Labradorstrom und die ringsherum abgeschliffenen Inselbuckel aus der letzten Eiszeit.
    Wieder eine Geschichte. Diesmal bin ich dran (Josephine auf der Sitzbank mit geschlossenen Augen, den Kopf nach hinten gelegt):
    »Du schaust einem einsamen Vogel nach und staunst, daß er fliegen kann, und es wundert dich, wie er's macht. Es ist ein Sommerwind an irgendeiner Brandung irgendwo. Ein Abendhimmel breitet sich aus und nimmt den schwarzen Vogel auf. Manchmal verharrt er in der Luft, demonstrativ, wie ein Lumpen, der sich an den verwaschenen Himmel gehängt hat. Die zitternden Flügelspitzen - wie sie die feinsten Unebenheiten der Luft ausbalancieren. Dabei bewegt er seinen Kopf von der einen Seite zur anderen, ohne Hast. Sein Reich. Man könnte meinen, er lächle über die ganze Schwere dieser Welt. Was soll er sonst machen, der stolze Vogel, als fliegen? Soll er etwa auf einer Sanddüne hocken, dick wie Menschen, und schauen, wie die Sonne ins Meer plumpst? Plötzlich ein Schlag mit den Flügeln, und jetzt gleitet er den Küstenstrich entlang auf und ab, getrieben vom Abendwind, der streng über den Strand fährt. Dann macht er sich wieder im Himmel fest. Du schaust ihm zu, bis er dir keine Ruhe mehr läßt.
    Du fängst ihn ein. Du sperrst ihn in einen Käfig und beobachtest ihn Tag und Nacht - wie er von einer Stange zur nächsten hüpft, von einem Gitter zum anderen. Du gibst ihm einen Namen, nennst ihn Timo oder Baldin oder sonstwie. Vielleicht gibst du ihm auch keinen Namen, sondern schaust ihm bloß zu. Du fütterst ihn mit Sonnenblumenkernen. Dann mißt du ihn aus. Du mißt seine Spannweite, seine Länge, den Durchmesser seines Rumpfes an allen Stellen, du zählst die Anzahl Federn, du mißt die Gelenke und zeichnest die Konstruktion auf Millimeterpapier auf wie ein Architekt. Dann steckst du ihn in einen Windkanal, experimentierst mit verschiedenen Geschwindigkeiten und Anstellwinkeln. Du berechnest Kennzahlen und Proportionen und leitest daraus weitere Proportionen ab und vergleichst diese mit wiederum anderen Kennzahlen. Dann rupfst du ihm die Federn aus, eine nach der anderen. Sie stecken tief, und manchmal muß man drehen, bis sie sich lösen. Dann nimmst du das spitze Messer und schneidest ihm die Unterseite auf, von der Kehle bis zum Schwanz. Du trennst ihn sorgfältig auseinander und spannst seine Haut mit hundert Nadeln im Wachs der Sezierschale auf. Stilleben. Der einst stolze Vogel nun wie ein antikes Fledermausgemälde. Jetzt frißt sich deine blanke Sezierschere durch die Innereien und trennt Organ um Organ heraus, ohne daß Blut fließt. Zuerst die Leber, der Magen, dann das Herz. Es erstaunt dich, daß keine göttliche Kraft in ihm steckt, sondern hohle Knochen, Därme, Sehnen. Dazwischen halbverdaute Sonnenblumenkerne. Das Gewebe unter dem Mikroskop zeigt wieder einen anderen Vogel: keine Fledermaus mehr, sondern undefinierte Stränge von Zellen wie Würmer im Glas, die durch sich selbst kriechen. Ein stärkeres Mikroskop zeigt keine Würmer mehr, sondern einzelne Zellen, die sich gegenseitig den Platz streitig machen. Schließlich bestätigt das stärkste Mikroskop, das du auftreiben kannst: dieselbe Substanz wie der Rest der Welt, eine banale Anhäufung von Atomen. Du kannst dir sogar ausrechnen, daß einige dieser Atome einmal einen Menschen gebaut haben.
    Viele Jahrzehnte später, du bist inzwischen ein alter Mann oder, in deinem Fall, eine alte Frau, stehst du wieder auf einer Düne und schaust einem Vogel dabei zu, wie er mit dem Wind spielt und sich über die Menschen lustig macht. Du schaust ihm lange zu. Allmählich merkst du, daß er genau das ausführt, was du gerade denkst. Denkst du eine Rechtskurve, so dreht er rechts ab, denkst du Gleitflug, so breitet er seine Flügel aus und läßt den Wind über jede Feder streichen. Du läßt ihn in der Luft stehen, Kreise drehen, herunterstechen mit angelegten Flügeln und wieder auffahren, du läßt ihn tänzeln in den Luftwellen und den Strand entlang auf und ab schießen. Du spielst mit ihm bis weit in die Dämmerung hinein, bis du ihn nicht mehr sehen kannst, dann läßt du ihn fliegen und gehst nach Hause.
    Auf dem Heimweg wirst du das Gefühl nicht los, daß nicht du mit ihm, sondern er mit dir gespielt hat. Das denkst du noch die ganze Nacht; vielleicht noch viele Jahre. Dabei war dir gar nichts aufgefallen damals, als du ihn zerlegt hattest. Du hast den Verdacht, daß nicht du die Welt betrachtest, sondern die Welt

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