Himmelreich
lebenden Stahls, wenn sie bei Rot an den Ampeln standen und auf den Absätzen kaum sichtbar hin- und herschaukelten, fast so, als würden sie ungeduldig in diesen Schuhen stehen, ja als würden sie lieber vorwärts gehen, gehen, immer gehen, um mit jedem Schritt die Hüften in der kreisenden Bewegung zu halten, die es ihnen ermöglicht hätte, Hula-Hoop-Reifen gleichmäßig und schwerelos in Schwingung zu halten. Es gab Straßen im New York dieser Sommerabende, die voll waren mit Frauen, Frauen, die wußten, wie man Kleider trägt, Frauen, die sich so bewegten, wie es der männlichen Vorstellung in aller Kühnheit entsprach, Frauen, die vor einem Schaufenster stehen konnten, in einer Art, die es mir unmöglich machte, zu denken oder wenigstens anzunehmen, sie hätten sich nicht wegen mir genau so hingestellt, gelassen und in einer raffinierten Weise konstruiert, ohne aufdringlich zu erscheinen. Ihre Unnahbarkeit, obschon sie da waren, ansprechbar wie Notrufsäulen der Polizei. Es gab Frauen, deren Haare ein solches Gestrüpp bildeten, daß man damit hätte Schuhe putzen können, und es gab Frauen, deren Haare wie handgeschöpftes Papier waren, hell, glatt, kalt, fein wie Staub. Es gab Frauen, deren Brüste Fingerhüten glichen, und solche, deren Brüste groß wie Köpfe waren. Es gab Frauen, wie ich sie noch nie gesehen hatte, wie ich sie mir nicht einmal hätte vorstellen können, so viele Frauen auf einmal, die geeignet gewesen wären, für Schönheitsprodukte zu werben, für Parfüm, Kosmetik, Unterwäsche oder Shampoo, und auf den Seiten der Busse als Werbung durch die Straßen zu ziehen. Ein Übermaß an Anmut, eine fast beleidigende Konzentration an Grazie. New York, das war in meinem ersten Jahr ein Laufsteg aus karamelisiertem Zucker. Je länger der Sommer andauerte, desto mehr Abende gab es, an denen mir die Schwüle wie ein Bühnenvorhang vorkam, der sich nicht heben wollte und hinter den ich nicht schauen konnte, der, wie ich mir dachte, das Leben in all seiner Banalität und Misere, in seiner spektakulären Einfältigkeit, in seiner Überdramatisierung der trivialsten Gefühle vor mir verbarg. Ich hatte in diesem Theater Platz genommen und wollte, daß das Stück des Lebens, des sogenannten etablierten Lebens, noch lange nicht beginnen würde; ich wollte, daß der Saal nie aufhören würde, sich mit Leuten zu füllen, daß das Gequassel ewig weitergehen würde, die gegenseitigen Begrüßungen, der Austausch von Blicken, die Reihen von Menschen, die sich erheben mußten, um jemanden zu seinem Sitz durchzulassen - einer nach dem anderen setzten sie sich dann wieder, wie die Tasten eines Klaviers. Ich wollte noch eine Ewigkeit lang vor diesem dunkelroten, schwülstigen, bebenden Vorhang sitzen. New York, das war ein Triumph, der ausschließlich darin bestand, anwesend zu sein, vorhanden, lebend, atmend, schauend. Der ganze Sommer bestand aus nichts anderem als Erwartung. Das war vor über zwanzig Jahren.
Am Morgen noch in Zürich; jetzt stand ich in der Park Avenue. Die Luft fühlte sich kalt und metallisch an. Der Himmel zauberhaft leer. Sonnenglanz auf den Spitzen der Bürotürme. Der Verkehr in Wellen - wie er sich staute und bei Grünlicht wieder entspannte, regelmäßig, beinahe wie Atmung, und es fiel mir auf, daß meine eigenen Muskeln dieselbe Entspannung mitmachten, wenn die Fahrzeuge losbrausten, Gehupe aus den Seitenstraßen, seltsam abgedämpft, ich entdeckte keine neuen Verhaltensmuster im Verkehr, alles so, wie ich es erwartet hatte, alles so, wie ich New York von meinen früheren Besuchen kannte. Ich drehte mich um: Hier also war sie, die Bank, Manhattan Finance Corporation, die ich ab diesem Tag zu führen hatte, diese Dame mit ihrer Fassade aus den 70er Jahren, Glas, aber nicht durchgehend, sondern jedes Stockwerk unterbrochen von schwarzglänzenden Kunststeinplatten, kein Glasklotz, sondern ein Zebramuster, bei dem die weißen Streifen doppelt so breit waren wie die schwarzen. Man erwartete mich dort oben; möglich, daß sie sich vor mir fürchteten, ich prüfte mein Haar in einem Schaufenster, meinen Anzug - Nadelstreifen, wie üblich hier in Bankenkreisen -, meine Krawatte. Dann ließ ich mich in die Drehtür hineinfallen.
Ich tauchte mit meiner ganzen Existenz in das Sprudelbad der Arbeit ein, deren Dämpfe und Gerüche ich gierig aufsog, als wären es Heilkräfte, und deren Düsen mich an Stellen kitzelten und massierten, von deren Existenz ich gar nichts mehr wußte, Bereiche, die
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