Himmelreich
es hat etwas Verzweifeltes, ihr Küssen, etwas, was an hungrige Vögel erinnert.
Sie nimmt mich an der Hand, was mich etwas ungelenk macht, und wir gehen über die Gemüsebrücke. Weihnachtsbeleuchtung auch hier.
Der riesige Christbaum vor dem Fraumünster, prächtiger von Jahr zu Jahr. Überall Reste von glitschigem Laub. Taubendreck. Natürlich frage ich mich, was Josephine an mir findet, und es fällt mir nicht schwer, mir die Vorteile auszudenken, die ich einer zehn Jahre jüngeren Frau zu bieten habe. Ich bin, mit einem Wort, ein interessanter Mann. Ich habe Ideen. Ich bin intelligent, arriviert, ein Mann von Welt, mit einem schelmischen Hang zur Verspieltheit, dem ich mich allerdings nur selten hingebe und der am offensichtlichsten in der Finesse der Argumentation zum Tragen kommt, ich bin erfolgreich, was nicht zu verbergen ist, meßbar erfolgreich und darum kein Snob, in einem gesunden Maß bodenständig, ohne Gefahr, ins Bäuerische abzurutschen, weil mit einer Verachtung des Herkömmlichen ausgestattet, ein Meister im Registrieren meiner eigenen Gedanken und im Erraten der ihren, ich bin, und das ist vielleicht meine größte Stärke, in meinem Alter nicht mehr darauf versessen, etwas zu sein, was ich gar nicht bin. Meine intellektuellen Ausschweifungen, die ich bereits in jungen Jahren zugunsten des Kommerziellen eingetauscht habe, nicht ohne Überrest. Wir reden stundenlang, wandern von Thema zu Thema, ohne daß es der geringsten Anstrengung bedarf. Vielleicht aber ist sie ganz einfach unergründbar in mich verliebt. Beim Nebeneinandergehen experimentieren wir: Hände haltend wie langjährige Ehepaare, umschlungen im Gleichschritt, träumerisch vorwärts schreitend, dabei die Köpfe aneinandergelehnt, oder jeder für sich, berührungslos. Man müßte eine neue Art des Nebeneinanderherschreitens erfinden.
Was tun mit dem Abend? Es ist nicht weit, sagt sie und nimmt mich beim Arm. Draußen ist es dunkel. Nässe. Wir überqueren hundert Straßen, so scheint es, tausend Scheinwerfer blenden uns an, wir warten an Ampeln.
Was ich nicht lassen kann: mit meinen Händen ihren Körper entlangfahren. Ich drehe sie zu mir, öffne den massigen Gürtelknoten, dieses Stoffschloß aus grauen und schwarzen Fäden, dann lasse ich die beiden Enden ihres Gürtels hinter ihren Rücken fallen, und der Mantel steht offen. Ihr dünner, aufgewärmter Pullover. Darunter nur Haut. Es ist, als würden die anbrausenden Scheinwerfer jetzt zusammen mit meinen Händen in ihren Mantel fahren, als würden sie alles ausleuchten. Sie läßt es geschehen mit einer Selbstverständlichkeit, als wäre jede andere Beschäftigung vor Fußgängerampeln undenkbar. Meine Hände wie Saugmäuler, aber sanft. Dann Grün. Wir überqueren die Straße vor der stehenden Lichterkolonne. Im Losgehen schließt sie den Mantel wieder. Sie schließt ihn wie einen aus Versehen aufgerissenen Vorhang und knotet den dicken Stoffgürtel wieder fest. Alles im zügigen Schritt. Wir überqueren Tramschienen, manchmal Geäder von glänzenden Tramschienen mit Wasserbächen darin. Wir überqueren den Platz vor dem Bahnhof Wiedikon, den ich nur als Autofahrer kenne, von den unzähligen Malen als Teil der stockenden und leuchtenden Wagenkolonne. Ab und zu das Quietschen von Trams in entfernten Kurven. Wir gehen Hand in Hand wie Schulkinder, die von der Klasse abgekommen sind und jetzt gedankenverloren durch fremde Quartiere streunen, Hand in Hand, damit wir uns nicht auch noch verlieren. Sie ist kalt, ihre Hand, ich stecke sie zusammen mit meiner in ihre Manteltasche. Plötzlich schwenkt sie links ab. Eine dunkle Nebenstraße, Arbeiterquartier, Verkehrslärm aus allen Richtungen, Geräusch von Zügen. Eine unscheinbare Holztür. Sie läßt mich vor. Kein Zögern meinerseits, was mich überrascht. Ein dunkler, kalter, hallender Eingangsbereich. Was denken? Ich schaue ihr zu, wie sie die Post ihrem Fach entnimmt, sie durchsieht. Ich stehe da, Hände in den Manteltaschen. Keine Schande, mit einer fremden Frau in einem Hauseingang zu stehen, sage ich mir, während ich die Namen auf den Briefkästen lese, lauter ausländische Namen. Wir gehen die Treppe hoch, eine breite Holztreppe, ab der zweiten Etage knarrend. Es ist mir unangenehm, das Knarren, irgendwie verräterisch. Dann stehen wir vor ihrem Eingang, das Schild sagt »Hofmann«, sie schließt auf, geht voran, macht Licht.
Jetzt ist mein Zögern da.
Für einen Moment quält mich die Vorstellung, wie meine Frau vor der
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