Himmelreich
Hitze über dem Meer.
Was konnte ich anderes tun, als ihr Wasser einzuflößen, ihr Gesicht zu kühlen, es mit Trinkwasser zu besprenkeln, den ganzen Tag. Wie konnte ein Kind, das schon den Tod gesehen hatte, so am Leben hängen? Wie konnte es mit so einer Kraft und Ausdauer das Regime des Lebens an sich zurückreißen, das in der brütenden Hitze untergegangen war? Ich ernährte Lily mit Brot, das über die ganze Insel verstreut war, man hätte hundert Körbe damit füllen können, keine Ahnung, woher es kam, Semmeln wie Pilze im Sand, ich kaute es in meinem Mund vor, rieb es zwischen den Fingern zu kleinen Kügelchen, die ich in ihren Mund legte und mit Wasser hinunterspülte. Sie schrie kaum. Ihr Atem, so schien mir, war jetzt regelmäßig, ebenso der Puls. Ich bettete sie auf Decken, die ich in den Trümmern fand, spannte ein Leintuch darüber, machte es an den Stämmen der Palmen fest und setzte mich zu ihr in den Schatten. Ihre Augen waren sehr dunkel und sehr groß. Zum Zeitvertreib grub ich mit den Zehen im Sand.
Dann wieder die Nacht. Das Blinken der Marina von Staniel Cay. Jedes Mal, wenn ich dieses einsame orange Licht sah, nahm ich mir vor, am nächsten Morgen hinüberzuschwimmen, um Hilfe zu holen, doch sobald die Sonne wieder da war, schrumpfte Staniel zu einer unerreichbaren Hoffnung. Fünf Kilometer, das würde ich niemals schaffen. Selbst ohne Strömung, die mich rücksichtslos in den Atlantik hinausgetrieben hätte - von den Haien ganz abgesehen.
Am dritten Tag ging das Trinkwasser zur Neige. Die einzige noch intakte Wasserflasche, die ich in den Trümmern der Backstube - es war tatsächlich eine Backstube, genau wie es dieser Raphael gesagt hatte - finden konnte, legte ich für Lily zur Seite. Alle anderen Flaschen waren zerschlagen, auch der 200-Gallonen-Trinkwassercontainer, der offenbar eine Brotproduktion gespeist hatte, war ausgelaufen. In der Zisterne lagen Äste, Blätter und Sand.
Sobald der Tag da war, war auch die Sonne wieder da, und mit ihr die höllische Hitze. Dazu die Libellen, die wie ferngesteuerte Spionagedrohnen kreuz und quer über die Insel zogen, ab und zu direkt vor meinem Gesicht stehenblieben, reglos. Wenn ich sie mit der Hand zu vertreiben suchte, wichen sie bloß ein paar Zentimeter aus, um sich gleich wieder in die Luft zu stellen. Manchmal standen vier, fünf Libellen gleichzeitig vor mir. Ihre Augen wie Knöpfe, die ihrerseits wiederum aus tausend Augen bestanden.
Einmal ein Segelboot, das schätzungsweise eine Meile entfernt nach Norden zog. Ich lag im Schatten neben Lily, als ich das weiße Segel jenseits des Riffs erblickte. Ich riß das Leintuch vom Baum, rannte zur Küste, schwenkte das Tuch hin und her, fuchtelte mit den Armen, sprang in die Luft, schrie, schrie mir die Kehle aus dem Leib, versuchte Feuer zu machen, vergeblich, weder Streichhölzer noch Kleinholz waren zu finden. Ich schrie, meine Hände zum Trichter geballt, Richtung Horizont, während das Segelboot lautlos vorbeizog und allmählich verschwand. Dann hielt ich sie wieder stundenlang einfach in meinen Armen, auf ein Wunder hoffend.
Ich weiß nicht, weshalb ich nicht früher auf die Idee gekommen bin. Wir hatten ja ein Schlauchboot, jenes, das wir aus der Cessna gerissen hatten, es lag dort, als gepreßtes Paket im Sand, zusammen mit dem zweiten Flugzeugsitz, den Schwimmwesten, den Motorenölkanistern und dem restlichen Gerümpel. Ich riß an der roten Leine. Mit einem Zisch lag es bereit. Zwei Ruder aus dünnem Kunststoff befanden sich darin, die nur noch zusammengeschraubt werden mußten.
Minuten später stießen wir - der Bankdirektor und sein Findelkind - von der Insel ab und paddelten Richtung Staniel.
Ich versuchte an verschiedenen Stellen, das Riff, das die Insel umschloß, zu durchbrechen. Die Wellen, die vom Atlantik her anstürmten und auf den Korallensteinen zerbarsten, waren mächtige Walzen, mannshohe Wasserwände voller Gischt. Wann immer ich mit Schwung eine Welle zu überlisten versuchte, folgte auf die ruhige Phase eine um so mächtigere Wellenbank, die uns sogleich wieder zurückwarf. Manchmal waren sie so mächtig, daß sie das Schlauchboot beinahe umgekippt und uns zwischen Wasser und Riff zermalmt hätten. Nach zwei Stunden waren wir noch immer nicht über diese Maginot-Linie hinweggekommen, wir schaukelten und drehten, erbärmlich wie ein Papierschiffchen in einem Flußwirbel, dazu die Sonne, die gnadenlos auf uns niederbrannte. Erschöpft ließ ich die Ruder fallen.
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