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Himmelreich

Himmelreich

Titel: Himmelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rolf Dobelli
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beenden, so daß es für sich selbst steht, abgeschlossen, ohne Möglichkeit, die Zukunft zu verseuchen?
    Ich verbrachte insgesamt vier Tage und vier Nächte auf jener Insel. In den Trümmern fand ich eine Schaufel. Das Grab war schnell ausgehoben. Ich bettete die beiden Toten - Josephine und mich - hinein und deckte sie mit Sand zu. Ich ließ sie in ihren Kleidern. Ich weiß auch nicht, weshalb ich dem Mann sogar noch die Krawatte festzog. Ich begrub sie mitsamt ihren Ausweisen.
    Als ich die letzte Schaufel Sand darüberstreute, vernahm ich von irgendwoher ein Wimmern. Zuerst dachte ich an ein Tier, an einen verendenden Hund, der vielleicht unter den eingestürzten Mauern eingeschlossen war. Es war ein Geräusch, wie ich es noch nie gehört hatte. Ich stand, auf die Schaufel gestützt, und horchte. Doch so wie es gekommen war, war es wieder verstummt. Dann begann es erneut. Ich hatte Mühe, die Richtung zu orten. Vielleicht lag es am Wind, diese Unstetigkeit. Einmal hörte ich ein Knacksen im Gebüsch. Vielleicht eine Echse, redete ich mir ein, der Brunftruf eines Iguanas. Vermutlich war es nur der Wind. Natürlich war es idiotisch, anzunehmen, Echsen würden sich zum Paaren rufen, aber ich war zum Umfallen müde, die Sonne stand schon wieder unsäglich hoch und versengte alles Leben auf dieser Insel. Ich legte mich in den Schatten einer Palme. Das Gewimmer gab keine Ruhe. Ich stand erneut auf und suchte. Auf einmal fand ich mich vor einer Garbe sorgfältig gebüschelter Palmenblätter.
    Ich schob sie mit dem Fuß zur Seite.
    Es gibt Bilder, Eindrücke, die man ein Leben lang mit sich herumträgt. Man trägt sie herum wie Steine im Kopf. Bilder, die sich zuvorderst ins Bewußtsein eingebrannt haben. Sie sind nicht zu tilgen, weder durch Zeit noch durch Absicht, sie können höchstens durch noch stärkere, noch schrecklichere Bilder überschrieben werden. Eigentlich sind es nicht Bilder, es sind Schmerzen.
    Da lag es.
    Ein Kind, nackt, ein Winzling.
    Es lag auf ein Kissen gebettet in diesem Loch. Uringeruch. Ich war wie betäubt, wie jemand, der Zeuge eines Unfalls ist, einen erschrockenen Blick auf die Blutlache wirft und dann weitergeht, ohne etwas abbekommen zu haben, aber ich ging nicht weiter, sondern blieb in der Hocke vor diesem Grab sitzen, ungläubig, daß das, was ich hier zu sehen bekam, auch nur das geringste mit der sogenannten Wirklichkeit zu tun hatte. Ich zog es an seinen Armen heraus. Sie fühlten sich tot an, und als ich den winzigen Körper an meiner Brust festhielt, fielen die Arme gleich wieder herunter. Ich lief zum Meer, wo ich das Kind ins Wasser tauchte, um den erhitzten Körper abzukühlen, um den Sand wegzuwaschen, den zur Kruste vertrockneten Speichel, den Kot, ich lief zu den Ruinen, wo ich am Tag zuvor Wasserflaschen gesehen hatte. Ich schüttete das Trinkwasser über seinen Kopf. Ich sperrte den Mund mit meinen Fingern auf und schüttete Wasser in diese winzige Öffnung hinein. Ich wußte nicht, was ich tun sollte, ich wollte Wasser und Luft und Leben in diesen kleinen, nackten Körper pumpen. Sein Puls raste, gehetzt wie ein Tier unmittelbar vor dem Zusammenbruch. Ich versuchte, die Zeit anzuhalten, die mit jeder Sekunde das Leben aus diesem Wesen riß.
    Ich wußte nicht, woher dieses Kind kam, was es bedeutete, ich verstand überhaupt nichts mehr. Meine ganze Aufmerksamkeit war ausschließlich darauf ausgerichtet, die Mechanik dieses Körpers in Gang zu halten. Gegen Abend stabilisierte sich der Puls. Das heißt, er war nach wie vor unstet, aber die Phasen der Raserei waren abgeklungen. Die Atmung war einem Hundehecheln ähnlicher als einem geregelten Ein- und Ausströmen von Luft, aber auch dieses jagende Röcheln legte sich allmählich und ging in Atmung über. Nur das heftige Fieber wollte nicht abklingen - und mit dem Fieber die Schweißausbrüche.
    Ich sah, daß es ein Mädchen war. Es fiel mir erst jetzt auf.
    Es kam die Nacht - die zweite auf dieser Insel - und mit der Nacht die Kühle. Die Sterne kochten am blauen Himmel. Ich bekam kein Auge zu. Jedesmal, wenn sich der winzige Körper regte, fuhr ich hoch und flößte Wasser ein. Meine andere Hand ließ die Wasserflasche die ganze Nacht über nicht los.
    Am nächsten Morgen nannte ich sie Lily - ihr Name kam wie ein Befehl über mich. Ich konnte dieses Geschöpf nicht namenlos leiden sehen, ich weiß nicht, warum Lily, ich glaube, es war dieser Raphael, der mir von einer Lily erzählt hatte.
    Dann wieder die blaue, elektrische

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